Geschichte

Geschichte

Dr. Agate Carst - In weiser Voraussicht

[Quelle: BASF Corporate History / Fotograf: unbekannt]

Lebensdaten: 1896–1975

Beruf: Physikerin

Werkszugehörigkeit: 1927–1936

Diskriminierungs-/Verfolgungsgrund: "jüdische Abstammung" [Selbstaussage]

Schicksal: eigene Kündigung; Auswanderung

Ihr Entschluss steht vermutlich fest, lange bevor sie zum Füllfederhalter greift. Am 22. März 1936 teilt Dr. Agate Carst ihr Vorhaben auch ihrem Arbeitgeber mit. In ihrem Kündigungsschreiben erläutert die seit 1927 im Ludwigshafener Hauptlabor beschäftigte Physikerin ihre Gründe. Agate Carst hat Angst:

„Unter ausdrücklicher Feststellung der Tatsache, dass ich jüdischer Abstammung bin, erlaube ich mir, Ihnen Folgendes mitzuteilen: Im Laufe der letzten drei Jahre habe ich erkannt, dass ein Leben in Deutschland, das ich immer als mein Vaterland betrachtet habe, und in dem ich nicht mehr die Berechtigung habe, reichsbürgerliche Pflichten zu erfüllen, für mich eine seelische Belastung darstellt, der ich auf Dauer nicht gewachsen bin.“

Kündigungsschreiben von Agate Carst, 1936

Eine neue Lebensmöglichkeit

Was Agate Carst genau mit ihrer „jüdischen Abstammung“ meint, lässt sich aus den verfügbaren Quellen nicht klar rekonstruieren. Sie selbst gibt als Religionszugehörigkeit „evangelisch“ an. Vermutlich waren ihre Eltern Juden, die sich vor Agates Geburt taufen ließen. Aus heutiger Sicht ist die Entscheidung zur Auswanderung, gemessen an dem, was kommen sollte, eine potenziell lebensrettende Entscheidung. Wie schwer sie Agate Carst dennoch gefallen sein muss, lassen auch die weiteren Zeilen aus ihrem Kündigungsschreiben erahnen:

„Obgleich ich persönlich innerhalb und außerhalb des Werkes stets die grösste Rücksichtnahme erfahren habe, sah ich mich aus obigen Gründen doch gezwungen, mich an meine Verwandten in Übersee zu wenden und hoffe, mit ihrer Hilfe in Amerika eine neue Lebensmöglichkeit zu finden. Ich bitte Sie deshalb um meine Entlassung und kündige hiermit fristgemäss zum 30.9.1936.“

Eine fähige Forscherin

Agate Carst ist eine gebildete Frau, deren wissenschaftliche Ausbildung sie auch an das angesehene Kaiser Wilhelm-Institut für physikalische Elektrochemie in Berlin-Dahlem (heute Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft) führt. Eine Station, die auf persönlichen Ehrgeiz und die erfolgreiche Anwendung ihres Könnens rückschließen lässt.

Ihr Werdegang führt sie 1927 weiter nach Ludwigshafen. Laut Arbeitszeugnis beschäftigt sie sich dort „im Hauptlaboratorium mit physikalischen Problemen der verschiedensten Art (Oberflächenmessungen, Elektronenbeugungsversuche, Materialprüfung von Kunstseidefäden etc.)“. Bis 1936 lebt und arbeitet die Forscherin hier – und kann doch nicht bleiben.

Neues Leben in der neuen Welt

Ihre Auswanderungspläne wird sie noch früher umsetzen als zunächst geplant. Im April informiert sie die I.G. Farben, sie könne „schon Anfang Mai“ in die USA fahren und wäre wegen notwendiger „Anschaffungen“ für die „Übersiedlung“ dankbar, „wenn Sie die Endabrechnung mit mir schon jetzt vornehmen würden“. Wenig später bestätigt sie den Erhalt von 1246,51 RM, die sie für die Pensionskasse der I.G. Farben entrichtet hatte und den Verzicht auf weitere Ansprüche. Auch ihr restliches Gehalt bekommt sie noch ausgezahlt, ebenso Sondervergütungen.

Mit 40 Jahren emigriert Agate in die USA. Viel ist nicht bekannt zu dem Leben, das sie dort führen wird. Ob sie beruflich wieder Fuß fassen kann? Nach Deutschland jedenfalls wird sie nicht zurückkehren. In ihrer neuen Heimat heiratet sie den aus Güstrow stammenden Kaufmann Gerhard Hinrichsen (1897-1988), der bereits 1934 nach Brasilien ausgewandert war. Agate Carst stirbt 1975 fast 80-jährig in Brasilien.

Den Holocaust hat Agate Carst überlebt. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Irene, die in Deutschland bleibt. Sie wird im Juli 1942 in Treblinka ermordet.

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