Geschichte
Die Explosion von 1948
Um 15.43 Uhr bleiben die Zeiger der Werksuhr an Tor 1 stehen. Die Explosion, die am 28. Juli 1948 um diese Zeit das BASF-Werk in Ludwigshafen erschüttert, bringt nach dem Zweiten Weltkrieg unvorstellbare Zerstörung über einen Ort im Wiederaufbau, der sich drei Jahre nach Kriegsende noch unter französischer Besatzungsherrschaft befindet. Das Unglück schlägt aufgrund einer intensiven internationalen Berichterstattung hohe Wellen. Auch Hilfe kommt nach der Explosion sozusagen aus aller Welt. Soldaten aus der französischen und der angrenzenden US-amerikanischen Besatzungszone sind schnell zur Stelle.
Wieder eine Gaswolken-Explosion
Wie schon bei der Gaswolken-Explosion 1943 ist auch dieses Mal ein Kesselwagen involviert. Der Großraumdruckkesselwagen „Halle 562 795“ steht am 28. Juli 1948 auf Höhe der Kreuzung Anilinfabrikstraße/Bleistraße, zwischen den Gebäuden Lu 47 und Lu 21.
Der Unglückskesselwagen wird dort um 5.45 Uhr abgestellt und ist im Laufe des besonders heißen Juli-Tags hohen Temperaturen ausgesetzt. Beladen ist er mit rund 30 Tonnen Dimethylether. Als der Kesselwagen platzt, strömt das verflüssigte Gas aus und verdampft. Das Dimethyletherdampf-Luftgemisch entzündet sich. Die anschließende Explosion fordert 207 Todesopfer und lässt 3.818 Menschen zum Teil schwer verletzt zurück.
Das Werkgelände gleicht in einem Radius von ca. 200 Metern um den Explosionsherd einem Trümmerfeld. Etwa 20 Gebäude werden durch die Explosion gänzlich zerstört, 120 tragen starke Schäden davon. Darüber hinaus weisen unzählige Werksbauten Dach- und Fensterschäden auf. Insgesamt muss auf dem Werksgelände eine Dachfläche von 185.000 Quadratmeter neu eingedeckt und eine Fensterfläche von 61.400 Quadratmeter neu verglast werden. Auch das Stadtgebiet von Ludwigshafen, vor allem die Stadtteile Nord und Friesenheim, werden durch die von der Explosion ausgelöste Druckwelle beschädigt. Hier sind es fast 5.000 Gebäude mit größeren und kleineren Schäden, auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Mannheim immer noch etwa halb so viele.
Die Hilfe nach dem schrecklichen Knall kommt schnell: Aus dem Werk, aus der Stadt, aus der Region eilen Menschen herbei. Auch die Besatzungsmächte der Bizone sind schnell zur Stelle. Es ist ein Akt bemerkenswerter Solidarität über alle Zonengrenzen hinweg, der, wie das Unglück selbst, schnell Schlagzeilen macht. [Quelle: Stadtarchiv Ludwigshafen a.Rh., Fotograf: Hans Wagner, Haardt]
Überdruck durch Überfüllung?
An den Ermittlungen zur Unglücksursache beteiligen sich verschiedene Gruppierungen: Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei sowie deren französisches Pendant, die Sûreté (nationale). Mit dabei sind auch das Gewerbeaufsichtssamt und die Berufsgenossenschaft. Außerdem werden zwei Gremien eingerichtet: der siebenköpfige Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landes Rheinland-Pfalz sowie auf Initiative der französischen Besatzungsmacht die Internationale Untersuchungskommission.
Warum platzte Kesselwagen "Halle 562 795" auf? Eine absolut zweifelsfreie Antwort auf diese Frage wird damals nicht gefunden. Die Experten kommen zu dem Schluss, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände ursächlich war. Als mögliche Ursachen konkretisieren sie eine irrtümliche Bewertung der Kesselwagen-Kapazität, die hohe Temperatur am 28. Juli 1948 und eine schwache Stelle in der oberen Längsschweißnaht des Behälters. Ähnlich wie beim Unglück 1943 zeigt das Schadensbild einen augenscheinlich durch inneren Überdruck geplatzten Behälter.
In einer Bekanntmachung wird die Belegschaft von BASF über den Wortlaut des Schlussberichts der Parlamentarischen Untersuchungskommission informiert – und ihr darin versichert, dass zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen im Werk bereits in Umsetzung sind.
Die Beteiligten kommen zu dem Schluss: Gemäß bestehender Vorgabe der Druckgasverordnung war Kesselwagen „Halle 562 795“ nicht überfüllt. Dafür hält man es für wahrscheinlich, dass die Kapazität des Kesselwagens tatsächlich kleiner war als amtlich ausgewiesen. Deshalb liegt auch aus Sicht der Staatsanwaltschaft kein Verstoß gegen geltende Sicherheitsvorschriften vor. „Man kann das Aufreissen des Kesselwagens Halle Nr. 562 795 durch eine Verflüssigung des in ihm enthaltenen Dimethyläthers erklären. Diese Verflüssigung war die Folge einer Überfüllung, weil eben der Kesselwagen in Wirklichkeit ein kleineres Volumen hatte als der auf dem amtlichen Schild angegebenen errechneten Kapazität entsprach“, erläutert die Internationale Untersuchungskommission in ihrem Bericht, den sie im Januar 1949 vorlegt.
30 Tonnen Hochentzündliches
Die damals als außergewöhnlich heftig eingestufte Explosion und das Ausmaß ihrer Zerstörung überraschen zeitgenössische Gutachter. Beteiligt ist ein farbloses, hochentzündliches Flüssiggas: Dimethylether – in der zeitgenössischen Schreibweise Dimethyläther. Der Dimethylether des Unglückskesselwagens „Halle 562 795“ fällt bei der Methanol-Produktion im Werk Oppau an und wird dort am 10. Juli 1948 abgefüllt. Im Werk Ludwigshafen sollen die geladenen 30 Tonnen Dimethylether zu Dimethylanilin weiterverarbeitet werden, ein Farbstoffzwischenprodukt, das seit 1937 im Bau Lu 21 aus Anilin und Dimethylether hergestellt wird.
Sprengstoff und andere Gerüchte
Im Spannungsfeld unterschiedlicher politischer Interessen in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg zwischen westlichen und sowjetischen Besatzungsmächten wird das Explosionsunglück teils sehr unterschiedlich für die Öffentlichkeit aufbereitet. So gelangen Falschmeldungen und Gerüchte in das öffentliche Bewusstsein. Da heißt es schon mal, Geheimversuche, die von der französischen Besatzungsmacht im BASF-Werk in Ludwigshafen durchgeführt würden, hätten die Explosion herbeigeführt. Auch die Opferzahlen variieren anfangs sehr – womöglich aus Unsicherheit über den Unglückshergang und weil man möglichst schnell berichten will. Außerdem wird das Gerücht gestreut, in Ludwigshafen würde Sprengstoff hergestellt, obwohl sich kein Sprengtrichter auf dem Werksgelände findet, der bei einer Explosion von Sprengstoff entstehen würde.
„Wie ein Flammenball, der sich ausbreitet“
Das Schadensbild des Unglücks 1948 spreche dafür, dass es sich um ein deflagratives Explosionsereignis gehandelt haben muss, sagt Dr. Vera Hoferichter, Leiterin BASF Gas Phase Explosions & Ignition Sources. Was das bedeutet und wie die Befüllregeln von damals heute einzuordnen sind, erläutert sie im Interview.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Insgesamt verlieren an diesem Tag 207 Menschen ihr Leben. Zwei Tote gehören der französischen Administration an, 176 sind Beschäftigte des Werkes Ludwigshafen, 24 arbeiten für Fremdfirmen (Kontraktoren) im Werk Ludwigshafen. Außerdem finden fünf Werksfremde durch die Explosion den Tod, darunter auch ein vierjähriges Mädchen.
Unter den 3.818 Verletzten sind rund 500 Schwerverletzte, die stationär im Krankenhaus behandelt werden müssen. Die große Mehrzahl der Verletzten sind "Aniliner", 778 Verletzte sind Beschäftigte von Fremdfirmen oder sogenannte Werksfremde, die sich außerhalb des Werksgeländes aufgehalten haben. Denn die Explosion zerstört nicht nur Teile des Werks, auch die umliegenden Wohnviertel sind betroffen. Die Erschütterungen der Explosion sind bis weit über Ludwigshafen spürbar, die Rauchwolke weit sichtbar. Dächer stürzen ein, Scheiben gehen zu Bruch. Der Knall und seine Folgen traumatisieren eine ganze Stadt.
Doch es gibt auch Glück in diesem Unglück. Zum Zeitpunkt der Explosion befinden sich rund 600 Vertrauensleute bei einer Versammlung im sogenannten Feierabendhaus, einem BASF-Gebäude für Veranstaltungen außerhalb des Werkes. Viele von ihnen hätten sich sonst vermutlich in Explosionsnähe aufgehalten und wären betroffen gewesen. Unter den Vertrauensleuten ist auch Maria Tomaliks Vater, Ludwig Zimpelmann. Die Zeitzeugin erlebt die Explosion als Zehnjährige zuhause in der Anilinstraße hautnah mit.
Es ist Sommer, Maria Tomalik (*1938) kann barfuß laufen. Das zehnjährige Mädchen trägt am 28. Juli 1948 ein luftiges Kleid und stopft gerade Strümpfe vor ihrem Elternhaus in der Anilinstraße, nicht weit von der Zufahrt des städtischen Krankenhauses in der Bergmannstraße entfernt, als es plötzlich knallt. Scheiben bersten, Ziegel fallen vom Dach, die nackten Füße bluten. Die schrecklichen Bilder, die Maria Tomalik an diesem Tag sehen wird, bewegen sie noch heute. Ludwigshafen bleibt sie dennoch treu. Später wird sie bei BASF im Labor arbeiten.
Heinz Müller (1929-2022), seit seiner Kindheit wohnhaft in Limburgerhof, ist seit Anfang 1948 in der Schreinerwerkstatt für Büro- und Labormöbel auf dem BASF-Werksgelände tätig. Die Aufgabe der Werkstatt ist es zu jener Zeit, das Werk nach Kriegsschaden wieder mitaufzubauen. Zum Zeitpunkt der Explosion befindet sich der damals 19-Jährige ganz in ihrer Nähe und soll Labormöbel einbauen. Er passt gerade eine Schreibtischplatte ein, als es zur Explosion kommt. Dass er unter dieser Platte sitzt, bewahrt ihn vermutlich vor Schlimmerem. Einer seiner Kollegen, der sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Werkstatt befindet, kommt ums Leben. Heinz Müller arbeitet sich in den darauffolgenden Jahren zum Schreinermeister hoch und verbringt sein ganzes Arbeitsleben bei BASF.
„Ein reichhaltiger Strauß an Erlebnissen“
Zeitzeugenberichte machen historische Ereignisse emotional erlebbar und fügen ihnen eine unmittelbare Perspektive hinzu. Subjektivität, die es ebenfalls braucht, um sich ein umfassendes Bild „von damals“ machen zu können. Auch die Berichterstattung 1948 ist geprägt von Augenzeugenberichten und persönlichen Schilderungen des Unglücks. Ein Aufruf von BASF hat 2022 außerdem gezeigt, wie viele Menschen sich auch heute noch an das Unglück erinnern, das sie im Jugend- und Kindesalter erlebt haben. Dr. Isabella Blank-Elsbree, Unternehmenshistorikerin bei BASF Corporate History, über die Bedeutung von Zeitzeugen und die Eigenwilligkeit von Erinnerung.
Bergen, retten, helfen
Die ersten Bergungs-, Rettungs- und Hilfsmaßnahmen erfolgen unmittelbar. Ärzte, Krankenschwestern und Rot-Kreuz-Helfende machen sich regionsübergreifend auf den Weg zur Unglücksstelle, die Grenze zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone spielt dabei ausnahmsweise keine Rolle.
Auch Feuerwehr und Polizei rücken zur Hilfe an, genauso Soldaten beider Besatzungsmächte rechts und links des Rheins. Der Einsatz der Beteiligten wird rückblickend oft als beispiellos beschrieben. Die im sogenannten Hilfswerk Ludwigshafen organisierten Hilfeleistungen und Entschädigungen für Opfer und Angehörige sind ebenfalls bemerkenswert.
Ohne zu zögern
Auch BASF-Mitarbeitende leisten in großer Zahl Soforthilfe. Auch nachdem sie womöglich selbst verletzt und notdürftig versorgt wurden, packen sie bei der Versorgung oder dem Transport von Verletzten, genauso bei der Suche und Bergung von Opfern mit an. Alle Helferinnen und Helfer gehen dabei ein großes Risiko ein. Verschüttete Zufahrtswege, Brände, eine große Rauchentwicklung und die allgegenwärtige Gefahr weiterer Explosionen erschweren die Arbeit der Aufräum-, Bergungs- und Suchtrupps.
Solidarität über Zonengrenzen hinweg
„Die unmittelbaren Hilfsmaßnahmen erfolgten über die Besatzungsmächte“, erläutert Dr. Stefan Mörz, Leiter des Stadtarchivs in Ludwigshafen a. Rh. Im Interview spricht er über ein Unglück, das schnell zum Medienereignis wird, aber auch zum Exempel umfassender kurz- wie langfristiger Hilfsmaßnahmen, das Menschen über Zonengrenzen hinweg tatkräftig und solidarisch zusammenbringt.
Materielle Hilfe
Hilfe erreicht die Betroffenen auch schnell in Form von Sach- und Geldspenden, die aus ganz Deutschland, sogar aus dem Ausland bei BASF, der Stadtverwaltung oder z.B. in den Krankenhäusern eingehen. BASF stellt unmittelbar nach dem Unglück 100.000, - DM zur Verteilung zur Verfügung. Gebündelt werden die Spenden im "Hilfswerk Ludwigshafen", das die materiellen Hilfeleistungen und -maßnahmen organisiert. Insgesamt verfügt das Hilfswerk über rund 2,75 Mio. DM. Genauso über fast 150.000 Kilogramm Lebens- und Genussmittel, außerdem Bekleidung, Schuhe, Verbandsmaterial, Medikamente, Baustoffe und Baugeräte. Ein wichtiger Pfeiler der Hilfe ist die langfristige finanzielle Unterstützung von Hinterbliebenen und arbeitsunfähigen Verletzten, zu der das Hilfswerk und BASF beitragen. Die im Hilfswerk organisierten Sach- und Geldspenden werden außerdem für den Wiederaufbau oder die Reparatur von Gebäuden außerhalb des Werksgeländes genutzt.
Wie ein Lauffeuer
1943 erfuhr in Zeiten der NS-Diktatur kaum jemand außerhalb Ludwigshafens von dem Explosionsereignis auf dem Werksgelände der damaligen I.G. Farben in Ludwigshafen. Die Nachricht von der Explosion 1948 bei BASF allerdings verbreitet sich Ende Juli deutschlandweit wie ein Lauffeuer – auch international wird berichtet.
Von überallher kommen Fotografen und Journalisten, um zu berichten. Angereichert mit Erzählungen von Augenzeugen und Betroffenen zeigen sie das Unglück nicht zuletzt in seiner ganzen schrecklichen Bildgewalt. Das Unglück wird zum Medienereignis, wenn nicht zum Spektakel, das auch mit der Brille des aufkeimenden Kalten Kriegs bewertet und genutzt wird.
Weil sich die Explosion 1948 im von vier Besatzungsmächten verwalteten Deutschland ereignet, schlägt das Ereignis schnell international Wellen. Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern, Wirtschafts- und Sozialhistorikerin an der Universität Heidelberg, klärt auf über die Eigenheiten der Berichterstattung rund um die Explosion. Sie erläutert außerdem, warum wir heute anders berichten, das Unglück vor allem aber in Bildern anders dokumentieren würden.
Neue Wunden
Die Anteilnahme ist überwältigend: Zwischen 15.000 und 20.000 – die Angaben in den Quellen schwanken – Menschen nehmen am 2. August 1948 an einem Staatsakt auf dem Ludwigshafener Marktplatz zu Ehren der Explosionsopfer teil – unter ihnen hochrangige Staatsvertreter und Militärs. Der kirchlichen Trauerfeier am Nachmittag auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof wohnen 6.000 Menschen bei.
Der Schock sitzt tief. In seiner Trauerrede bezieht sich auch der Betriebsratsvorsitzende Ernst Lorenz auf die beiden zurückliegenden Explosionsunglücke in Oppau und Ludwigshafen: „(…) Es könnte fast scheinen, dass Schutt und Trümmer ein ständiger Begleiter im Lebenskampf des Aniliners sein sollen. Vielen der heutigen Trauerversammlung ist die furchtbare Katastrophe des Jahres 1921 noch in bester Erinnerung und die damals entstandenen seelischen und materiellen Leiden sind auch heute noch nicht ganz überwunden. Das Jahr 1943 schlug neue Wunden, die durch den Krieg und seine Begleiterscheinungen noch vergrößert wurden.“
Am ersten Jahrestag der Explosion ertönen in der BASF um 15.43 Uhr die Sirenen und läuten eine Schweigeminute für die Opfer ein. Außerdem wird im Vorfeld zu einer offiziellen Gedenkfeier auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof eingeladen. In den darauffolgenden Jahren gedenken BASF und die Stadt Ludwigshafen der Toten der Explosion von 1948 durch gemeinsame Kranzniederlegungen am Jahrestag des Unglücks sowie an Allerseelen/Allerheiligen. Am 28. Juli 2023, dem 75. Jahrestag des Unglücks 1948, gedenken BASF und Stadt in einer offiziellen Feier auch gemeinsam den Opfern der Katastrophe von 1943, die sich am 29. Juli zum 80. Mal jährt.