Geschichte
Die Explosion von 1943
Am 29. Juli 1943 erschüttert eine Explosion das Gelände des damaligen I.G. Farbenwerkes in Ludwigshafen. 64 Menschen sterben, hunderte werden verletzt. Dennoch ist über das Unglück wenig überliefert. Staatliche Geheimhaltung hüllt es im Zweiten Weltkrieg in Schweigen. Auch die folgenden Luftangriffe auf Ludwigshafen lassen das Explosionsunglück in der Erinnerung in den Hintergrund treten. Das erschwert heute die Suche nach Informationen über die Ursachen der Explosion und über ihre Opfer. Auch über die Zwangsarbeitenden unter ihnen war jahrzehntelang wenig bekannt.
Unmittelbare Eindrücke
Die mit der Aufklärung des Unglücks beauftragten Gutachter besichtigen 1943 nicht nur den Unglücksort, sondern befragen auch Augenzeugen. Am 2. August 1943 erfolgt ein Aufruf an die Beschäftigten aller Abteilungen und Betriebe der I.G. Farben in Ludwigshafen, sich mit relevanten Beobachtungen zu melden. In der Rückschau lassen die archivierten Berichte der Augenzeugen ein plastisches Bild des Hergangs und der Folgen der Explosion entstehen.
Kesselwagen „Mainz 514 442“
Der 29. Juli 1943 ist ein heißer Tag in Ludwigshafen. Im Süden des Werkes der damaligen I.G. Farben steht ein Rangierzug mit mehreren Kessel- und Kohlewagen in der Hitze. An fünfter Stelle des Zuges befindet sich der Kesselwagen „Mainz 514 442“. Er wurde vier Tage zuvor mit einem verflüssigten Butadien-Butylen-Gemisch befüllt. Um mutmaßlich 17.53 Uhr erschüttert eine schwere Explosion das Werk, gefolgt von einem Großbrand.
Der Schaden ist gewaltig: Zahlreiche Gebäude, Produktionseinrichtungen und Lagervorräte liegen in Schutt und Asche. 64 Menschen verlieren ihr Leben, 526 weitere werden verletzt. In einer Stellungnahme der Chemisch-Technischen Reichsanstalt, eine der Vorläufereinrichtungen der heutigen Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, im Oktober 1943 heißt es: „Soweit die Literatur bekannt ist, ist das das schwerste Explosionsunglück, bei dem ein mit einem verflüssigten Gas gefüllter Kesselwagen die Ursache gewesen ist.“
Sachverständige und Sabotage
Das Gutachten, das die Chemisch-Technische Reichsanstalt am 14. Oktober 1943 vorlegt, stellt einen Zusammenhang zwischen den hohen Tagestemperaturen und einer mutmaßlichen Überfüllung des Kesselwagens „Mainz 514 442“ fest. Darin stützen beispielsweise Fotografien vom Unglücksort die These, dass dieser als Ausgangspunkt der Explosion gelten muss. Der aufgeplatzte Kesselwagen ist hier u.a. in einem Auszug des Gutachtens dokumentiert und auf dem Werksgelände verortet.
Kurz nach der Explosion beauftragt die Werksleitung interne und externe Sachverständige mit der Untersuchung der Ursache. Vertreter der Berufsgenossenschaft und der Chemisch-Technischen Reichsanstalt sind vor Ort. Schnell wird der Kesselwagen „Mainz 514 442“ als Ursprung des Unglücks ausgemacht – „mit größter Wahrscheinlichkeit“. Auch die Gestapo (Geheime Staatspolizei) schaltet sich ein. Sie geht vor allem dem Verdacht nach, „ein Sabotageakt“ habe die Explosion ausgelöst.
Anhaltspunkte, so zeigen die Quellen, finden sich ausschließlich für eine andere Hypothese: eine Überfüllung des Kesselwagens bei hohen Außentemperaturen. Eine eindeutige Aufklärung liefern die Gutachten allerdings nicht. Eine „lückenlose Beweisführung", so heißt es im Bericht der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie, sei nicht möglich gewesen.
„Fabrizieren um jeden Preis“
Im Kesselwagen „Mainz 514 442“ befindet sich am 29. Juli 1943 ein verflüssigtes Butadien-Butylen-Gemisch, sogenanntes Rückbutadien, für die Buna-Produktion. Im Werk Ludwigshafen ging im April 1943 die dritte Buna-Anlage der I.G. Farben in Betrieb. Die Produktion des synthetischen Kautschuks gilt als kriegswichtig. Das Werk steht unter Druck. Deshalb werden die Endstufen der Buna-Herstellung in Betrieb genommen, ohne dass die vorgelagerten Anlagenteile – wie die Destillation – gänzlich fertiggestellt sind.
Bis zur Vollendung der neuen Butadien-Destillation in Lu 166 bedeutet das: Das Butadien-Butylen-Gemisch, das bei der Polymerisation im Gebäude Lu 193 anfällt, wird in Lu 392 gereinigt. Von dort wird das destillierte Butadien erneut der Polymerisation im Bau Lu 193 zugeführt. Der damit verbundene Kesselwagenverkehr zwischen Lu 193 und Lu 392 ist eine Übergangslösung, die auch im Sommer 1943 gilt.
Direktor Dr. Wilhelm Pfannmüller, der werksintern für die Aufklärung des Unglücks verantwortlich ist, stellt in seinem Bericht vom November 1943 nicht nur dessen Hergang und mögliche Ursachen dar. Auch die zeitgenössischen Hintergründe treten zutage, indem er den akuten Druck während des Krieges schildert, große Produktionsmengen an Synthesekautschuk zu erreichen.
Ein geduldeter Verstoß?
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zur Schuldfeststellung werden im November 1943 eingestellt. Der Blick in die Quellen legt nahe: Es gibt in dieser Zeit bei der Befüllung von Kesselwagen einen sowohl werkseitig als auch behördlich geduldeten Verstoß gegen die sogenannten Technischen Grundsätze der Druckgasverordnung. Denn Kessel werden nicht während, sondern nur nach der Befüllung gewogen. Eine eigentlich vorgeschriebene Gleiswaage an der Füllstation Lu 193, so wird argumentiert, existiert aufgrund von Beschaffungsengpässen im Krieg nicht.
Aus diesem Grund wird der Kesselwagen „Mainz 514 442“ nur im Anschluss an die Befüllung am 25. Juli 1943 im Rangierbahnhof gewogen, seine Wiegekarte nach der Explosion am 3. August 1943 ausgewertet. Sie offenbart: Der Kesselwagen war um 15 Prozent des damals zulässigen Gewichts überfüllt.
Überfüllung und hohe Temperaturen
Vielfach ist von einer „Kesselwagenexplosion“ die Rede. Aus heutiger Sicht trifft dieser Begriff für das Unglück am 29. Juli 1943 aber nicht zu. Der Kesselwagen selbst konnte nicht detoniert sein, da kein Explosionstrichter vorzufinden war. Die Schlussfolgerung: Gas- oder dampfförmige Stoffe mussten die Explosion ausgelöst haben.
Ausgangspunkt des Unglücks am 29. Juli 1943 ist Kesselwagen „Mainz 514 442“, hier im Bild markiert. Er wurde mutmaßlich mit einem Butadien-Gemisch überfüllt und riss durch ansteigenden Innendruck auf.
Sowohl Werksdirektor Pfannmüller als auch externe Sachverständige gehen von einer „Überfüllung“ als Unglücksursache aus, auch wenn eine „lückenlose Beweisführung" nicht möglich sei, wie es im Bericht der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie heißt. Seine Sichtweise wird auch von externen Sachverständigen geteilt. Folgender Ablauf gilt damals als plausibel: Die hohen Außentemperaturen am 29. Juli 1943 erwärmten den Kesselwagen massiv, sodass sich das geladene Butadien-Gemisch ausdehnte, den Druck im Kesselwagen ansteigen und ihn aufplatzen ließ. Das Gasgemisch trat im flüssigen Zustand aus, verdampfte im Freien, vermischte sich mit Luft und traf auf eine Zündquelle.
„Das Gaspolster im Kesselwagen war zu klein“
Dr. Vera Hoferichter, Leiterin BASF Gas Phase Explosions & Ignition Sources, ordnet aus heutiger Perspektive ein, wie es zur Gaswolken-Explosion 1943 kommen konnte. Sie ist sich sicher: Würde der Kesselwagen „Mainz 514 442“ nach aktuellen Vorgaben und Erkenntnissen bewertet, wäre er eindeutig als überfüllt einzustufen.
Eine traurige Bilanz
Eine eindeutige Angabe zu den Namen und der Herkunft der Verstorbenen und Verletzten ist für das Explosionsunglück von 1943 nicht überliefert. Erste Opfer-Zahlen werden in den Tagen unmittelbar nach der Explosion erhoben und während der Bergungsarbeiten fortlaufend aktualisiert, zuletzt am 31. August 1943. Die traurige Bilanz: 64 Tote und 526 Verletzte.
Die Öffentlichkeit soll in Kriegszeiten von alledem nichts erfahren. Eine staatlich auferlegte Geheimhaltung hüllt die Explosion und ihre Folgen sowie die Ursachensuche in Schweigen. Nur ein zeitgenössischer Zeitungsartikel ist bekannt, der das Unglück allerdings nicht beim Namen nennt: Wenige Tage nach der Explosion ist im „Hakenkreuzbanner“ – dem damaligen zentralen Presseorgan der NSDAP für Mannheim und die Region – zu lesen, dass während des Krieges über Unglücke aus militärstrategischen Gründen nicht berichtet werden könne. Aus heutiger Perspektive ist es ein Indiz dafür, dass 1943 in Ludwighafen und Umgebung sehr wohl über das Unglück gesprochen wurde, wenn auch nicht öffentlich.
Lückenhaftes Gedenken: In der Werkszeitung der I.G. Farben erscheint im Sommer 1943 in der Rubrik „Unsere Toten“ eine unvollständige Namensliste von Verstorbenen. Auffallend ist: Es findet sich kein Hinweis auf die Todesursache. Hier genannt werden außerdem nur die Namen sogenannter „Gefolgschaftsmitglieder“, also nur von Mitarbeitenden des I.G. Farben-Werkes. „Externe“ Explosionsopfer, also Beschäftigte anderer Firmen, Kriegsgefangene und Wehrmachtssoldaten, bleiben unerwähnt. Außerdem sind hier von 13 getöteten ausländischen Gefolgschaftsmitgliedern (Zwangsarbeitende) lediglich sechs aufgeführt. Eine weitere Ungereimtheit: Der hier genannte Friedrich Schwarzkopf kam gar nicht bei der Explosion ums Leben.
Kategorisierung von Opfern
Intern werden die Todesopfer in unterschiedliche Gruppen eingeteilt: Waren sie bei der I.G. Farben oder extern beschäftigt? Waren sie deutscher oder ausländischer Staatsangehörigkeit? Es stellt sich heraus: Unter den 64 Toten sind 57 Beschäftigte der I.G. Farben, unter ihnen auch 13 ausländische Zwangsarbeitende. Zudem sind zwei Mitarbeitende externer Firmen, darunter ein Ausländer, zwei Flaksoldaten und drei ausländische Kriegsgefangene unter den getöteten Opfern. Insgesamt waren also 17 Explosionstote Zwangsarbeitende.
Trauern und (fehlendes) Gedenken
Die Trauerfeierlichkeiten finden auf Einladung der I.G. Farben am Montag, den 2. August 1943, um 16.00 Uhr auf dem Friesenheimer Friedhof in Ludwigshafen statt. Doch nicht alle Särge werden an diesem Tag im Freien vor der Friedhofshalle aufgebahrt. Für verstorbene Zwangsarbeitende, ausländische Zivilarbeitende und Kriegsgefangene, gilt eine diskriminierende Sonderregelung: Ihre Särge stehen nicht neben den anderen und sie werden auf einem getrennten Gräberfeld auf dem Hauptfriedhof beigesetzt.
„Man weiß, dass man nichts weiß“
Das Explosionsunglück 1943 hat nur wenige Spuren in Quellen hinterlassen, die heute zugänglich sind. Umso schwerer ist seine Rekonstruktion. Dr. Stefan Mörz, Leiter des Stadtarchivs Ludwigshafen a. Rh., spricht über ein Ereignis, das durch eine staatliche Schweigepolitik in Kriegszeiten verdeckt und schließlich im Bombenhagel der schweren Luftangriffe auf Ludwigshafen ab August 1943 überlagert wurde.
„Es gab keine finale Totenliste“
Die Toten und Verletzten der Explosion am 29. Juli 1943 bleiben im öffentlichen Raum und Gedenken lange namenlos. Dr. Susan Becker von BASF Corporate History begab sich auf eine Spurensuche durch mehrere Archive, um insbesondere endlich auch diejenigen Opfer zu identifizieren, die im Werk Ludwigshafen zur Arbeit gezwungen worden waren. Die intensive Recherche brachte neue Erkenntnisse über die durch auferlegte Geheimhaltung und schwere Luftangriffe „verschüttete“ Explosion 1943 ans Tageslicht.