„Schätzungsweise 2
Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu grundlegenden Medikamenten.“
Marijn Verhoef,
Access to Medicine Foundation
In Sierra Leone, im Tschad und im Südsudan führt etwa eine von 90 Schwangerschaften zum Tod der Mutter. Im Vergleich dazu liegt das Müttersterblichkeitsrisiko in der EU bei 0,006 Prozent – und ist damit 190-mal geringer. Wie kann das sein? Schwangere in Europa können sich einerseits besser ernähren und haben andererseits Zugang zur Gesundheitsversorgung: Etwa 98 Prozent der Geburten werden von qualifiziertem medizinischem Personal betreut. Außerdem stehen Antibiotika und Blutgerinnungsmedikamente zur Verfügung, um Komplikationen schnell und sicher zu behandeln.
„Armut scheint die Mutter gesundheitlicher Ungleichheit zu sein“, sagt Dr. Mohsen Naghavi, Professor für Health Metric Science am Institute for Health Metrics and Evaluation der Universität Washington. „In Ländern mit geringem Einkommen ist es um die Gesundheit schlechter bestellt als in Ländern mit hohem Einkommen: Die Lebenserwartung ist 34 Jahre niedriger, die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren etwa hundertmal höher und die Zahl der Todesfälle aufgrund von Antibiotikaresistenzen zwölfmal höher.“
„Schätzungsweise 2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu grundlegenden Medikamenten und Impfstoffen“, sagt Marijn Verhoef, Leiter der Abteilung Operations and Research bei der Access to Medicine Foundation. „Untersuchungen vor fünf und sechs Jahren ergaben, dass jedes Jahr etwa 6 Millionen Menschen an behandelbaren Infektionen sterben, weil ihnen keine Antibiotika zur Verfügung stehen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Sub-Sahara-Region am stärksten von steigenden arzneimittelresistenten Infektionen betroffen ist.“ Die tatsächlichen Auswirkungen des eingeschränkten Zugangs zu Medikamenten und zur Gesundheitsversorgung könnten laut Verhoef sogar noch gravierender sein, da ein Großteil der zur Erstellung der heutigen Schätzungen verwendeten Daten vor der COVID-19-Krise erhoben wurden. „Wir wissen, dass sich die Pandemie fast überall auf der Welt negativ auf die Gesundheitssysteme ausgewirkt hat“, sagt er.
Wie bei jeder großen globalen Herausforderung sind auch die Ursachen für den ungleichen Zugang zu Arzneimitteln komplex. Verhoef zufolge ist die Erschwinglichkeit ein großes Problem, insbesondere in Ländern, in denen viele Patienten die Gesundheitsversorgung aus eigener Tasche bezahlen müssen. „60 Prozent der Haushalte in Ländern mit niedrigen Einkommen können sich vier häufig verwendete Herz-Kreislauf-Medikamente, die in privaten Apotheken verkauft werden, nicht leisten. In Ländern mit niedrigem mittleren Einkommen sind es 33 Prozent und selbst in Ländern mit hohem mittlerem Einkommen liegt der Anteil bei 25 Prozent“, erklärt er. „Und 100 Millionen Menschen werden jedes Jahr durch die Kosten für die medizinische Grundversorgung in extreme Armut getrieben.“
„Schätzungsweise 2
Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu grundlegenden Medikamenten.“
Marijn Verhoef,
Access to Medicine Foundation
Dann ist da noch die Lieferkette: Damit ein Medikament verfügbar ist, müssen Hersteller die entsprechende Zulassung von den lokalen Regulierungsbehörden bekommen, eine Preisstrategie festlegen und eine Lieferkette für Produktion und Vertrieb aufbauen.
Jeder dieser Schritte stellt laut Verhoef einen potenziellen Schwachpunkt dar. Die Arzneimittel-Vertriebsnetze erreichen unter Umständen die örtliche Bevölkerung nicht, insbesondere in abgelegenen und ländlichen Gebieten. Außerdem können sie anfällig für Diebstahl und Korruption sein. Die Lieferketten können zudem durch Produktionsengpässe oder politische Veränderungen beeinträchtigt werden. „99 Prozent der in der Sub-Sahara-Region verwendeten Medikamente werden im Ausland hergestellt“, erläutert er. „Während der Pandemie haben einige der Produktionsländer, die diese Märkte beliefern, Maßnahmen zur Einschränkung der Exporte ergriffen, um die Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung sicherzustellen.“
Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Pharmaunternehmen die Belieferung von Ländern mit geringen Einkommen als zu aufwendig und nicht lohnend ansehen. Die Access to Medicine Foundation hat es sich zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass diese Millionen ärmere Patienten nicht ignoriert werden. Seit 2008 bewertet die in den Niederlanden ansässige Organisation die 20 größten Pharmakonzerne der Welt im Hinblick auf ihre Bemühungen, den aktuellen und künftigen medizinischen Bedarf in ärmeren Regionen zu decken. Die Ergebnisse werden alle zwei Jahre im Access to Medicine Index veröffentlicht.
Die Pharmaunternehmen werden anhand mehrerer Kriterien bewertet. Etwa ob sie Produkte entwickeln, die den wichtigsten ungedeckten medizinischen Bedarf in Ländern mit geringen Einkommen decken, ob Pläne für die Markteinführung neuer Medikamente diese Regionen miteinschließen, und wie die Unternehmen die Bereitstellung von Produkten an Märkten mit niedrigem und mittlerem Einkommen unterstützen.
Diese genaue Prüfung scheint Wirkung zu zeigen. So bewies der jüngste Index aus 2022, dass alle 20 untersuchten Unternehmen über eine Strategie für den Arzneimittelzugang verfügen. Demgegenüber waren es im Jahr 2010 gerade einmal acht. Daneben weisen 77 Prozent der Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Spätstadium einen entsprechenden Zugangsplan auf. Es bleibt aber noch viel zu tun. Die Pläne für den Zugang zu neuen Medikamenten konzentrieren sich in der Regel auf eine relativ kleine Anzahl von Regionen, wobei solche mit mittlerem Einkommen gegenüber den ärmsten bevorzugt werden. Zudem sind Arzneimittelhersteller bei der Forschung und Entwicklung immer noch stärker auf Krankheiten ausgerichtet, von denen Patienten aus reichen Ländern am stärksten betroffen sind.
Um Krankheiten vorzubeugen oder sie zu heilen, braucht es nicht immer eine Pille oder Spritze. Eine gute Ernährung spielt eine entscheidende Rolle. Besonders häufig tritt Mangelernährung in einkommensschwachen Gebieten auf, in denen Menschen Schwierigkeiten haben, sich nährstoff- und abwechslungsreich zu ernähren. Doch man muss nicht hungrig sein, um an Unterernährung zu leiden. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation weist die Hälfte aller Kinder im Vorschulalter und zwei Drittel aller Frauen im gebärfähigen Alter ernährungsbedingt einen Mangel an Mikronährstoffen auf. Das sind die 27 Vitamine und Mineralstoffe, die der Körper – manchmal in winzigen Mengen – benötigt, um richtig zu funktionieren.
Der Mangel an Mikronährstoffen kann vielfältige Gesundheitsprobleme zur Folge haben, von einem geschwächten Immunsystem und verminderter Leistungsfähigkeit bis hin zu Blindheit und kognitiven Störungen. Wie häufig spezifische Mängel auftreten, hängt von der jeweiligen lokalen Ernährung ab, wobei der Mangel an Folat (Vitamin B9), Eisen, Vitamin A und Zink weltweit besonders stark verbreitet ist.
Vitamin A:
Der Körper braucht Vitamin A unter anderem für die normale Sehkraft und die Funktion des Immunsystems. BASF ist ein wichtiger Lieferant von Vitamin A und unterstützt seit 20 Jahren Projekte zur Anreicherung von Lebensmitteln in rund 40 Ländern. Vitamin A wird häufig Pflanzenölen, Mehl und Zucker zugesetzt.
Eine Möglichkeit, die Verfügbarkeit von Mikronährstoffen zu verbessern, besteht in der Anreicherung von Grundnahrungsmitteln – wie Salz, Speiseöl, Mehl, Milch oder Zucker. Dieser Ansatz wird von Fachleuten im öffentlichen Gesundheitswesen sehr geschätzt, weil sich damit auf kostengünstige Weise Effekte in großem Maßstab erzielen lassen.
Mariam Al-Hazaa ist Business Development Managerin bei der Al-Hazaa Investment Group, die insgesamt zwölf Getreidemühlen in Jordanien und im Nahen Osten betreibt. Als Reaktion auf den hohen Anteil an Eisenmangelanämie in der Bevölkerung setzt die jordanische Regierung seit 2002 auf ein landesweites Programm zur Anreicherung von Mehl. Im Fokus steht dabei das Mowahad-Weizenmehl – die Hauptzutat von Fladenbrot, dem Grundnahrungsmittel der Region. Zunächst wurde das Mehl nur mit Eisen und Folsäure angereichert. Im Lauf der Zeit kamen sieben weitere Vitamine sowie Zink hinzu. Mehlhersteller wie Al-Hazaa erhalten die Mikronährstoffe in Form einer von der Regierung bereitgestellten Vormischung.
„Wir brauchen innovative Lösungen, um die Ernährung zu verbessern.“
Mariam Al-Hazaa,
Al-Hazaa Group
Da die Kunden in puncto gesunder Ernährung zunehmend sensibilisiert sind, hat die Al-Hazaa Group die Anreicherung auf andere Produkte ausgeweitet. „Wir nehmen nicht nur am Regierungsprogramm teil, sondern stellen zudem auch ein angereichertes Allzweckmehl her“, so Mariam Al-Hazaa. Das Unternehmen arbeitet zudem mit Geschäftskunden zusammen, um die Verwendung von angereichertem Mehl in einer breiteren Produktpalette voranzutreiben.
Dieser Prozess war nicht immer einfach. „Angereichertes Mehl muss unter kontrollierten Bedingungen gelagert werden, damit die Mikronährstoffe erhalten bleiben. Außerdem kann die Zugabe der Vormischung Farbe, Textur und sogar den Geruch des Endprodukts beeinflussen.“ Um eine breitere Akzeptanz von angereichertem Mehl zu schaffen, braucht es für Mariam Al-Hazaa ein besonderes Augenmerk auf die Formulierung und Qualität von Nährstoffvormischungen. Außerdem müssten sowohl Mehlerzeuger als auch Endverbraucher ihre Verfahren anpassen. Die Al-Hazaa Group ist Gründungsmitglied von Millers for Nutrition, einem von der Industrie geführten Verbund. Er setzt sich dafür ein, dass die Anreicherung von Grundnahrungsmitteln für Mehlhersteller leichter und lohnenswerter wird. Als Gründungsmitglied stellt BASF technisches Fachwissen und mobile Testkits zur Verfügung, um Mehlhersteller zu unterstützen.
In Jordanien hat sich die Häufigkeit von Eisenmangel bei Kindern zehn Jahre nach Start des landesweiten Mehlanreicherungsprogramms halbiert. Und auch die weltweiten Bemühungen im Kampf gegen gesundheitliche Ungleichheiten machen Fortschritte. Trotzdem sind die Unterschiede nach wie vor groß und in vielen Bereichen hat sich die Verbesserung in den vergangenen Jahren verlangsamt. Um weiter voranzukommen, braucht es nachhaltige Anstrengungen und Investitionen von Regierungen, Industrie und NGOs. Und oft ein wenig Einfallsreichtum, wie unsere Beispiele gezeigt haben.