„Mit KI könnten wir Dinge realisieren, die vorher nicht möglich waren.“
Ricardo Vinuesa,
Außerordentlicher Professor im Fachgebiet Mechanik,
Königlich Technische Hochschule Stockholm/Schweden
Der Mensch versucht angestrengt, den Planeten und sich selbst zu retten. Maschinen könnten das vielleicht besser.
Jedes Jahr gelangen rund 350 Millionen Tonnen Methan durch den Menschen in die Erdatmosphäre. Das Gas speichert Wärme und ist für etwa ein Drittel des globalen Temperaturanstiegs seit der industriellen Revolution verantwortlich. Während Kohlendioxid ein unvermeidliches Nebenprodukt bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe ist, ließen sich Methanemissionen in vielen Fällen verhindern. Methan entsteht nicht nur in der Landwirtschaft: Ein großer Teil des wirkmächtigen Treibhausgases wird in hohen Konzentrationen bei Ölbohrungen, Pipeline-Lecks oder von Mülldeponien freigesetzt. Ein Ende dieser Emissionen würde dazu beitragen, die globale Erwärmung zu verlangsamen – doch eine Methanfahne zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, ist kompliziert und aufwendig. Es kann mehrere Datenquellen und viele Analysen erfordern, um die Ursache eines Methanproblems zu ermitteln.
Möglicherweise gibt es aber einen schnelleren Weg. Peter Joyce, PhD, und seine Kollegen vom National Centre for Earth Observation in Großbritannien haben gezeigt, dass mit künstlicher Intelligenz (KI) Methanemissionen auf Satellitenbildern identifiziert und quantifiziert werden können. Mit einer Wettermodellierungssoftware haben sie simulierte Bilder von Methanfahnen unterschiedlicher Größe erstellt und dann ein KI-System darauf trainiert, diese Bilder zu erkennen. Als das System das Prinzip verstanden hatte, wandten sie den Ansatz auf reale Daten an. Das Verfahren war schneller als herkömmliche Methoden: Es benötigte nur rund eine Minute, um 21 Methanfahnen auf Satellitenbildern zu erkennen, die eine Fläche von 900 Quadratkilometern abbildeten.
„Mit KI könnten wir Dinge realisieren, die vorher nicht möglich waren.“
Ricardo Vinuesa,
Außerordentlicher Professor im Fachgebiet Mechanik,
Königlich Technische Hochschule Stockholm/Schweden
Das Aufspüren von Methan ist nur eine von etlichen Herausforderungen, wenn es darum geht, den Einfluss des Menschen auf den Planeten besser zu verstehen – und abzumildern. Ob das Ziel ist, die Ausdehnung der Eisfläche auf dem Meer zu messen, den Zustand von Wäldern zu beurteilen oder Schwankungen der Luftqualität vorauszusagen: Die Analyse von Umweltproblemen ist durch große Mengen komplexer Daten und erhebliche Unsicherheiten gekennzeichnet. Die Auswertung dieser Daten ist für den Menschen mühsam und schwierig, wäre für ein gut konzipiertes KI-System aber eventuell schnell und leicht zu bewerkstelligen.
Künstliche Intelligenz könnte uns nicht nur helfen, die Welt zu verstehen, sondern auch, besser mit ihr umzugehen. KI kann Entwicklungen beobachten und vorhersagen, darüber hinaus aber auch Empfehlungen geben und Entscheidungen treffen. Und bessere Entscheidungen braucht die Welt dringend. 2015 einigten sich die Vereinten Nationen auf ihre Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Es handelt sich um eine Liste mit 17 Zielen und 169 Unterzielen, die Gesundheit und Bildung verbessern, Ungleichheit verringern und das Wirtschaftswachstum ankurbeln sollen. Zugleich soll die Agenda den Klimawandel bekämpfen sowie Ozeane und Wälder besser schützen. Als 2023 die Hälfte der für die Agenda-Umsetzung eingeplanten Zeit verstrichen war, fand ein Gipfeltreffen statt. Bei diesem warnte UN-Generalsekretär António Guterres davor, dass die Welt nur 15 Prozent der Agenda-Ziele erreichen werde, wobei „viele sich sogar rückläufig entwickeln.“
Zwar profitiert die Umwelt von den Vorteilen der KI-Technologien. Sie zahlt aber auch einen Preis dafür: Die Tools können günstig und effizient in der Anwendung sein, aber ihr Aufbau erfordert erhebliche Ressourcen.
Das Trainieren einer KI ist ressourcenintensiv. Das GPT-3-System von OpenAI verbrauchte beim Training schätzungsweise 1287 MWh Strom und verursachte 552 Tonnen Kohlendioxidemissionen. Das ist mehr als das 70-Fache der jährlichen Emissionen eines durchschnittlichen EU-Bürgers. Entwickler arbeiten an KI-Modellen, die schneller lernen oder im Nachgang weniger Training benötigen.
Neuronale Netze werden nicht wie normale Computersysteme programmiert, sondern trainiert. Das System wird mit Millionen von Beispielproblemen gefüttert und seine Verbindungen schrittweise justiert, bis es gute Lösungen liefert. Eine der größten Herausforderungen dabei ist es, genügend Daten für das Training des Modells zu finden beziehungsweise zu erstellen.
Moderne KI-Systeme sind vom menschlichen Gehirn inspiriert. Sie stützen sich auf mehrschichtige neuronale Netze, die zur Verarbeitung komplexer Daten zusammenarbeiten. Die Berechnungen, die für den Betrieb eines neuronalen Netzes erforderlich sind, sind einfach. Daher können komplexe Daten sehr schnell verarbeitet werden.
Welche Auswirkungen KI auf die Ziele der Agenda hat, bewertete ein Team der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm/Schweden in einem viel zitierten Artikel der Zeitschrift Nature Communications. Laut ihrem Ergebnis hat KI das Potenzial, beim Erreichen von 134 der 169 Unterziele zu unterstützen – das sind fast vier Fünftel.
„Wir haben viele Bereiche identifiziert, wo wir mit KI Dinge realisieren könnten, die vorher nicht möglich waren“, erklärt Ricardo Vinuesa, außerordentlicher Professor im Fachgebiet Mechanik und einer der Hauptautoren der Studie. „Beispielsweise lassen sich mithilfe von KI Satellitendaten analysieren und Regionen identifizieren, in denen die Ernte ausfallen wird und das Risiko extremer Armut zunimmt. Im nächsten Schritt kann man versuchen, Maßnahmen zur Unterstützung dieser Gebiete zu koordinieren.“ Großes Potenzial bietet der Einsatz von KI-Tools zum Beispiel auch für die Koordination von Verkehrsströmen in digital integrierten Smart Citys oder für Ökostromnetze, um Stromerzeugung und Verbrauch auszugleichen.
Soweit die Theorie. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Während KI-Chatbots auf der ganzen Welt für Schlagzeilen sorgen, erledigen andere Systeme weniger glamouröse Aufgaben. Mehrere Länder wie die USA, Deutschland, Großbritannien, Japan oder Südkorea nutzen KI-Technologien zum Beispiel, um ihre Abfallwirtschaft zu optimieren. KI kann nicht nur bei der Müllsortierung und -trennung bemerkenswerte Arbeit leisten, sondern auch bei der Planung von Routen und Zeitplänen der Müllabfuhr. Füllstandsensoren in Mülltonnen informieren über die Abfallmenge und zeigen an, ob eine Abholung notwendig ist. Das reduziert Emissionen und Verkehrsstaus durch die Müllwagen. Im Punggol Digital District, einem neuen Geschäftsviertel und Forschungspark in Singapur, entsteht derzeit eines der weltweit ersten groß angelegten smarten Energienetze. Die Gebäude in diesem Bezirk werden mit dem System kommunizieren und ihren Stromverbrauch an veränderte Bedingungen anpassen können.
Der finnische Telekommunikationsausrüster Nokia hat ein KI-Werkzeug entwickelt, um die Energieeffizienz von mobilen Datennetzen zu erhöhen. Das System analysiert und prognostiziert den Bedarf von Funktürmen und Computersystemen. Bei geringem Datenaufkommen nimmt es automatisch Anpassungen an Geräten vor oder schaltet sie ab. Dieser Ansatz könnte Energieverbrauch und CO2-Emissionen in Mobilfunknetzen um bis zu 30 Prozent senken. Das wären zwei bis fünfmal höhere Einsparungen als beim Einsatz von herkömmlichen Methoden.
„KI trägt zu höherer Ressourcen- und
Energieeffizienz bei.“
Dr. Andreas Wernsdörfer, Leiter des Bereichs
Digitalization of Production and Technology, BASF
Auch die chemische Industrie will ihre Effizienz mit Hilfe von KI steigern. So werden die Verbund-Standorte von BASF seit Jahrzehnten Schritt für Schritt digitalisiert. Der Bau eines neuen Werks in Zhanjiang/China gibt dem Unternehmen die Möglichkeit, einen Standort von Anfang an digital auszurichten. „KI trägt zu höherer Ressourcen- und Energieeffizienz und damit zu einem nachhaltigen Betrieb bei“, sagt Dr. Andreas Wernsdörfer, Leiter des Bereichs Digitalization of Production and Technology. „Das wird uns dabei unterstützen, den Verbund-Standort Zhanjiang zum Chemiekomplex mit dem niedrigsten CO2-Fußabdruck der Welt zu machen.“ Mit diesem Ziel sammelt BASF eine noch nicht dagewesene Menge an Echtzeit-Daten, um Transparenz über den gesamten Verbund zu schaffen und ihn in Zukunft so effizient wie möglich zu betreiben. „Unsere digitalen Tools werden genau zurückverfolgen können, wann und wo ein erneuerbarer Rohstoff in der Wertschöpfungskette genutzt wurde. Mithilfe von KI-Algorithmen wird außerdem simuliert, welche Maßnahmen die Betriebsteams vor Ort ergreifen können, um mehr Kohlendioxid einzusparen. Das können zum Beispiel präzise Prozess- und Steuerungseinstellungen der Produktionsanlagen sein“, so Wernsdörfer.
Andernorts nutzen Landwirte Daten und KI, um ihre Erträge zu steigern, den CO2-Ausstoß zu verringern und Pflanzenschutzmittel einzusparen. ONE SMART SPRAY von BASF Digital Farming und Bosch zum Beispiel setzt eine Bilderkennungstechnologie ein, um Unkraut automatisch zu erkennen. Das System entscheidet in Millisekunden und spritzt präzise nur dort, wo es nötig ist. So lassen sich Pflanzenschutzmittel bestmöglich einsparen.
KI hilft Landwirten auch, größere Zusammenhänge zu sehen. Heinrich Esser bewirtschaftet in sechster Generation einen Bauernhof in der Kleinstadt Vettweiß-Kelz in Nordrhein-Westfalen. Auf dem Hof werden Getreide, Kartoffeln und Sonderkulturen wie Erdbeeren angebaut.
„Wir leben nicht nur von der Natur, sondern auch mit ihr.“
Heinrich Esser, Landwirt und Praxispartner von
„KlimaPartner Landwirtschaft“
„Es ist uns sehr wichtig, den Hof und unsere Felder so zu bewirtschaften, dass auch zukünftige Generationen davon leben können: Wir leben nicht nur von der Natur, sondern auch mit ihr“, sagt Esser. Das bedeutet, Strategien zu verfolgen, bei denen der Ertrag optimiert und gleichzeitig der Einsatz von Wasser, Dünger und Pflanzenschutzmitteln kontrolliert wird. Mit 150 kg CO2-Äquivalenten pro Tonne Weizen hat Essers Anbau nur einen halb so großen CO2-Fußabdruck wie ein durchschnittlicher deutscher Landwirtschaftsbetrieb.
Aber er will noch besser werden. 2022 wurde er Praxispartner für das neue Projekt „KlimaPartner Landwirtschaft“ von BASF und der Raiffeisen Waren-Zentrale Rhein-Main, einem der größten Agrargroßhändler in Deutschland. „In den kommenden Jahren werden auf unserem Hof verschiedene Anbaustrategien erprobt, die den CO2-Ausstoß im Weizenanbau um 30 Prozent senken sollen“, erklärt Esser.
Im Mittelpunkt stehen dabei digitale und KI-gestützte Technologien. xarvio® FIELD MANAGER von BASF ist eine digitale Plattform, die Empfehlungen für den Pflanzenanbau gibt. Landwirte können als App darauf zugreifen und erhalten zum Beispiel Ratschläge zu Aussaat, Düngung und zum Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Das Projekt „KlimaPartner Landwirtschaft“ wird nun auf weitere Betriebe ausgeweitet.
Restaurants setzen auf KI, um Abfall zu vermeiden. Das Winnow-System etwa nutzt eine KI-Kamera, um Essensreste zu erkennen, wenn sie in den Mülleimer wandern. Die Mitarbeitenden teilen dem System mit, warum die Lebensmittel weggeworfen wurden, und die Manager können die Daten zur Planung von Portionsgrößen und Einkaufsmengen sowie zur Auswahl von Rezepten nutzen.
KI kann auch helfen, die Reste im eigenen Kühlschrank besser zu nutzen. Dienste wie Dishgen und Plant Jammer setzen KI ein, um Rezepte auf Grundlage der Nutzer-Vorlieben und der vorhandenen Zutaten zu erstellen.
Ricardo Vinuesa macht jedoch deutlich, dass die KI-Revolution sowohl Vorteile als auch Risiken mit sich bringt. „Wir haben herausgefunden, dass nur 35 Prozent der UN-Unterziele für nachhaltige Entwicklung durch KI negativ beeinflusst werden könnten“, sagt er. „Aber selbst wenn nur ein einziges Ziel negativ beeinflusst wird, ist das ein Grund zur Sorge, weil die Folgen unvorhersehbar sein können.“
Viele der Nachhaltigkeitsrisiken ergeben sich aus den menschlichen Entscheidungen bei der Anwendung von KI, erklärt er. Die KI-Optimierung bei der industriellen Produktion könnte beispielsweise so konzipiert sein, dass sie die Kosten senkt, dabei jedoch die damit einhergehende Umweltverschmutzung ignoriert. Auch der ungleiche Zugang zu Ressourcen könnte zu Problemen führen. KI-Technologien könnten die Kluft zwischen Arm und Reich verschärfen, da die Vorteile der neuen Technologien wohlhabenderen Regionen, Branchen und Unternehmen vorbehalten sind, die sich deren Entwicklung und Einsatz leisten können.
„KI muss Teil einer umfassenderen Strategie sein, die politische Veränderungen, Bildung und internationale Zusammenarbeit einschließt.“
ChatGPT, Large Language Model
Es besteht auch die Gefahr, dass der Mensch zu viel Vertrauen in die neue Technologie setzt. Als Analysten der Beratungsfirma PwC den Einsatz von KI in Umweltanwendungen bewerteten, kamen sie zu dem Schluss, dass sich damit das weltweite Bruttoinlandsprodukt um 3,1 bis 4,4 Prozent steigern ließe, während die Emissionen von Kohlenstoff um 1,5 bis 4 Prozent reduziert werden könnten. Das reicht bei Weitem nicht aus, um die Welt klimaneutral zu machen.
Auch die KI selbst ist vorsichtig, was ihr eigenes Potenzial angeht. „KI kann ein mächtiges Werkzeug sein, das die Bemühungen um den Erhalt der Umwelt unterstützt. Sie muss aber Teil einer umfassenderen Strategie sein, die politische Veränderungen, Bildung und internationale Zusammenarbeit einschließt“, so das Large Language Model ChatGPT. Vinuesa stimmt dem zu. Er ist davon überzeugt: „Um das Potenzial von KI auszuschöpfen, brauchen Industrie, Regierungen und die Öffentlichkeit ein besseres Verständnis für die Fähigkeiten und Grenzen von KI.“