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Medien

Interview

Wohlstand mehren
in einer endlichen Welt

13. Februar 2022

Zur Bewältigung des Klimawandels muss radikal neu gedacht werden, wie die Wirtschaft unseren Bedürfnissen dient. Nach Ansicht von Professor Tim Jackson müssen wir das System des endlosen Wachstums hinter uns lassen, um auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen überleben zu können.

Creating Chemistry: In Ihrem neuesten Buch behaupten Sie, dass das Streben nach Wachstum ein Mythos ist, der sich zu einer Dystopie entwickelt hat. Warum ist das so?

PROFESSOR TIM JACKSON: Meiner Ansicht nach könnten wir besser leben, wenn wir uns weniger stark auf den materiellen Wohlstand konzentrierten. Ich würde Wohlstand nicht als Wachstum definieren, sondern als Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, nicht als ständige materielle Expansion, sondern als gesundes Gleichgewicht. Diese Idee lässt sich mindestens bis zum griechischen Philosophen Aristoteles zurückverfolgen. Er stellt die grundlegende Frage, was ein gutes Leben ist – was es bedeutet, gut zu leben. Er sagt nicht, dass ein gutes Leben darin besteht, immer mehr anzuhäufen. Gut zu leben, bedeutet aus seiner Sicht, dass ein angemessenes Gleichgewicht besteht. Dies ist eine der Lehren, die wir während der Pandemie gezogen haben: Nicht Reichtum, sondern Gesundheit ist der Kern unseres Wohlstands. Und bei Gesundheit geht es um Ausgewogenheit und nicht darum, immer mehr zu haben. Es geht um mehr als die Quantität der Leistung, es geht um Lebensqualität.

Wie überzeugen Sie Menschen, die in Armut leben, von der Idee einer Postwachstumsära?

Gar nicht. Es gibt eindeutige Belege dafür, dass in den ärmeren Teilen der Welt höhere Einkommen, sicherere und sauberere Wohnmöglichkeiten, bessere Energiequellen und eine bessere Versorgung mit sauberem Wasser den Wohlstand und die Lebensqualität in ganz grundlegenden Bereichen erheblich steigern. Es besteht kein Zweifel, dass an manchen Orten ein gewisser Anstieg des Einkommens gut ist. Die Frage ist nur, ob diese Entwicklung auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen ewig weitergehen sollte. Liegt es nicht in der Verantwortung der reichen Volkswirtschaften, eine andere Art von Wirtschaft zu entwickeln, die nicht von mehr und mehr getrieben ist – damit die Ärmsten der Welt ausreichend Wohlstand erreichen können?

Junge fährt freihändig Fahrrad

Im CYCLES-Projekt des CUSP wird das Leben junger Menschen in sieben Städten auf sechs Kontinenten untersucht, um ihren Lebensstil, ihre Wünsche und ihre Vorstellungen von einem umweltverträglichen Leben zu verstehen.

Dem Kapitalismus wird attestiert, dass er Millionen von Menschen aus der Armut befreit hat. Werden Fortschritt und Innovation in einer Postwachstumsära stagnieren?

Die Annahme, dass nur das Streben nach Gewinn zu Innovationen führt, halte ich für falsch. Psychologen kennen zwei Arten menschlicher Motivation – extrinsische Ziele wie finanziellen Wohlstand und Status und intrinsische Ziele: die tief verwurzelte Sehnsucht nach Sinn, die uns dazu bringt, uns gesellschaftlich zu engagieren, Probleme zu lösen und von einer besseren Welt zu träumen. Es gibt Hinweise darauf, dass erfolgreiche Unternehmer sowohl von intrinsischen als auch von extrinsischen Zielen angetrieben werden. Eine Postwachstumsökonomie könnte reicher an sozialen Innovationen sein als eine kapitalistische Wirtschaft, in der davon ausgegangen wird, dass nur extrinsische Motivationen zählen.

Warum sollte ein Unternehmen eine Postwachstumsagenda verfolgen?

Wenn ein Geschäftsmodell auf kontinuierlichem Wachstum und Ertrag beruht, wird es an umwelt- oder ressourcenbezogene Grenzen stoßen. Die Wertschöpfungsketten stehen aufgrund ihrer Auswirkungen auf Energie, Klima, Ressourcen und Abfall im Zentrum des Wandels hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft, die innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert. Unternehmen haben es nicht mehr mit einer Welt zu tun, in der Ressourcen im Überfluss vorhanden sind und in der ihr Handeln nur vergleichsweise geringe Folgen für den Planeten hat. Sie müssen also nachweisen können, dass der gesellschaftliche Wert ihrer Produkte nicht durch die Auswirkungen der Produktionsketten auf die Umwelt untergraben wird.

Momentaufnahme von vielen Menschen in einem Raum, die sich gruppenweise unterhalten.

Was bedeutet es, ein gutes Leben innerhalb der ökologischen Grenzen zu führen? Das CUSP bringt Menschen aus allen Gesellschaftsbereichen zusammen, um neue Visionen für den Wohlstand zu entwickeln.

Was beinhaltet dieser Wandel?

Als ich vor 30 Jahren begonnen habe, mich mit sauberen Technologien zu befassen, stand der Gedanke einer Win-win-Situation im Vordergrund: Je weniger Materialien dem System verloren gehen, desto höher die Effizienzsteigerung. Doch heute greifen solche schlichten Effizienzmodelle zu kurz. Eine Möglichkeit ist, sich die Frage zu stellen, welchen Dienst ein Produkt leistet. Dann denkt man darüber nach, ob diese Dienstleistung nicht auch auf andere Weise erbracht werden könnte. Ein anderer Weg ist die Kreislaufwirtschaft, die ich sehr befürworte. Aber für mich endet die Überlegung nicht bei technischen Verfahren. Man muss noch einen Schritt weiter gehen und sich fragen, ob das, was produziert wird, auch dem Wohl des Menschen dient – das gibt einem Unternehmen seine gesellschaftliche Legitimation.

Kann der digitale Fortschritt zu einem nachhaltigeren Wachstum führen?

Mit digitalen Technologien lassen sich Dinge besser und effizienter erledigen – das birgt aber auch Gefahren. Wenn Löhne und Gewinne dem Produktivitätswachstum folgen, werden die an diesen äußerst cleveren Technologien beteiligten Menschen sehr schnell sehr reich. Wird dies nicht in Form von Löhnen an die Gesellschaft weitergegeben, entsteht eine gesellschaftliche Spaltung.

Die Annahme, dass nur das Streben nach Gewinn zu Innovationen führt, halte ich für falsch.

Tim Jackson

Direktor des Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity (CUSP) und Professor für nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey, Guildford/England

Welche Kennzahlen sollten Unternehmen in Ihrem alternativen Modell nutzen, um Erfolg zu messen?

Es gab verschiedene Ansätze – etwa das Drei-Säulen-­Modell, das auf Mensch, Planet und Gewinn beruht –, um das Mantra von Milton Friedman abzulösen, wonach dem Gewinndenken alles unterzuordnen ist. Man könnte diesen Gedanken in einen Ansatz umwandeln, bei dem die Unternehmen für Dienstleistungen, Fortschritt, Sinn und Wohlergehen der Gesellschaft verantwortlich sind. Wenn man sich mit Menschen unterhält, die für die erfolgreichsten Unternehmen der Welt arbeiten, geht es ihnen nicht nur um das Anhäufen von Kapital und Status, sondern auch um Sinn, gesellschaftlichen Nutzen und langfristigen Fortschritt. Ich denke, dass dieses Gleichgewicht sowohl auf gesamtgesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene notwendig ist. Aber es lässt sich in der Gesellschaft nur schwer umsetzen, weil die von uns geschaffenen Institutionen Praktiken legitimieren, die zu ungleich verteiltem Reichtum und angehäuftem Wohlstand auf Kosten der Menschen und des Planeten führen.

Messen wir in unseren Volkswirtschaften die falschen Dinge?

Viele Messwerte sind nicht zweckdienlich. Der bedeutendste davon ist das Bruttoinlandsprodukt. Es ist ein gutes Maß für die Wirtschaftsaktivität, aber kein guter Gradmesser für das Wohlergehen der Gesellschaft. Einige Länder haben damit begonnen, umfassendere und aussagekräftigere Metriken auf nationaler Ebene in ihre Entscheidungsprozesse zu integrieren. In Neuseeland wird zum Beispiel ein System zur Messung des Lebensstandards verwendet. Es gibt auch Ansätze, vom Bruttoinlandsprodukt die Schäden in der Natur abzuziehen oder ein gewisses Maß an Ungleichheit einzubeziehen. Entscheidend ist, wie die Länder diese Maßnahmen als Entscheidungsprozesse nutzen, um die Richtung ihrer Wirtschaft und Gesellschaft zu bestimmen.

Es wurde viel darüber gesprochen, nach der Pandemie umweltfreundlichere Strukturen zu schaffen. Was bedeutet das für Sie?

Die meisten denken, es geht dabei um Investitionen in Windkraftanlagen und Solarmodule. Doch unter dem Aspekt des CO2-Fußabdrucks gehören die zu den umweltfreundlichen Branchen, die für Sicherheit, Sozialfürsorge und Bildung sorgen. Die gesellschaftlichen Ressourcen, die unsere Lebensqualität verbessern und schützen, sind grün, weil sie sich nicht so sehr auf Technologie und Ausrüstung stützen, sondern auf die Zeit der Menschen, die etwas füreinander tun. Bei der Umstellung auf eine grüne Wirtschaft nach der Pandemie geht es zum Teil um den Aufbau effizienter, kohlenstoffneutraler Technologien. Es geht aber auch darum, eine Gesellschaft mit vielen Arbeitsplätzen zu schaffen, weil wir in das Gesundheits- und Sozialwesen und in die Dinge investieren, die das gesellschaftliche Gefüge stützen.

Außenaufnahme eines Kaffees im Stadtteil Finsbury Park. Die Sonne scheint und Menschen sitzen im Freien an Tischen beieinander und unterhalten sich.

Kunst und Kultur sind nach Ansicht des CUSP ein wesentlicher Bestandteil des Wohlstands. Der Stadtteil Finsbury Park der englischen Hauptstadt London verzeichnet eine schnelle Gentrifizierung. Das CUSP untersucht, welche Rolle Kulturaktivitäten für das Verständnis eines guten Lebens spielen.

Was für eine Welt wünschen Sie sich in 30 Jahren?

Wir sollten unser Augenmerk auf etwas richten, das reicher und erfüllender ist als das materialistische Streben nach angehäuftem Reichtum. Eine Welt, in der die Menschen mehr Möglichkeiten haben, durch eine erfüllende Arbeit und ein erfüllendes Leben Reichtum zu erlangen, wäre viel gerechter. Es gäbe ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl, bessere Beziehungen, stärkere Gesellschaften und eine sauberere Umwelt.

Wie erreichen wir dieses Ziel?

In Studien haben uns Kinder gesagt, dass sie sich einen Beruf wünschen, in dem sie einen sinnvollen gesellschaftlichen Beitrag leisten können. Wir ermutigen sie jedoch zu einem materialistischen, technologiegetriebenen Leben, in dem man ein bestimmtes Einkommen braucht, um mit Gleichaltrigen konkurrieren zu können und in einer komfortablen Situation zu sein. Wir sollten eine Ethik des Anstands und des Dienstes für die Gesellschaft entwickeln, bei der die Bereicherung der Gesellschaft die Grundlage für unseren gemeinsamen Wohlstand bildet. Windräder, Solarmodule und Elektrofahrzeuge werden wichtig sein. Am meisten liegt mir jedoch die soziale Qualität der Zukunft am Herzen.

Experteninterview mit Tim Jackson und BASF

3 Fragen an Tim Jackson

Über Tim Jackson

Direktor des Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity (CUSP) und Professor für nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey, Guildford/England

Seit mehr als drei Jahrzehnten führt Jackson die Debatte darüber, wie sich auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen Wohlstand am besten erreichen lässt. Er war Wirtschaftskommissar des Ausschusses für nachhaltige Entwicklung des Vereinigten Königreichs und veröffentlichte 2009 sein bahnbrechendes Buch Wohlstand ohne Wachstum. Sein neuestes Werk, Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn, erschien Ende 2021.