Ludwigshafen
Häftling 116 927
Zeitzeuge Albrecht Weinberg erzählt seine Geschichte.
Eine, die sich nicht mehr wiederholen darf.
Weltweit wird am 27. Januar der Opfer des Holocaust gedacht – 1945 befreiten an diesem Tag sowjetische Soldaten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im besetzten Polen. Kolleginnen der Erinnerungsinitiative „Gedenken. Nachdenken. Umdenken.“ haben anlässlich des Gedenktages mit Albrecht Weinberg, einem der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers der I.G. Farben in Auschwitz, gesprochen.
September 2022: Albrecht Weinberg sitzt in einem bequemen blauen Sessel in der guten Stube seiner Wohnung in Leer, Ostfriesland. Neben dem 97-Jährigen steht sein Rollator. Aus filigranen Teetässchen dampft starker ostfriesischer Schwarztee mit Kluntjes, weißen Kandiszuckerstücken in der Größe von Murmeln. Im Hintergrund laufen jüdische Lieder im CD-Player. Gerda Dänekas (73) hat Zitronenkuchen gebacken und verteilt routiniert die obligatorischen Sahnewölkchen im Tee. Sie ist nicht nur Weinbergs Betreuerin, sondern auch seine Mitbewohnerin. Nichts an dieser heimeligen Atmosphäre erinnert an den Schrecken, den Terror, den Kampf ums Überleben, die Weinbergs frühe Kindheit und Jugend geprägt haben.
Der Schraubstock dreht sich zu
März 1925: In Westrhauderfehn, nur wenige Kilometer von seinem jetzigen Wohnsitz entfernt, erblickt Weinberg als drittes und letztes Kind einer jüdischen Familie das Licht der Welt. Unter dem Tannenbaum der Nachbarskinder singt er Weihnachtslieder, seine Freunde feiern zusammen mit seiner Familie das Chanukka-Fest. Es ist ein gutes Miteinander, das wenige Wochen vor seinem achten Geburtstag mit der Machtergreifung Hitlers jäh endet. Über Nacht werden aus angesehenen Nachbarn, den Weinbergs, plötzlich Feinde. Sein Vater, ein Viehhändler, darf sein Gewerbe nicht mehr ausüben, der Geschäftsboykott verbietet es Juden, in „arischen Geschäften“ einzukaufen, und umgekehrt. Die Lebensbedingungen für die jüdische Familie werden von Tag zu Tag schwieriger: „Wir wurden in einen Schraubstock gespannt. Jeden Tag eine neue Umdrehung, bis man sich nicht mehr bewegen konnte.“
Elf Jahre ist Weinberg alt, als er nicht mehr auf die deutsche Volksschule gehen darf. Die Familie schickt ihn und seine Schwester zu Verwandten nach Leer, wo sie die jüdische Schule besuchen. „Ich hab‘ furchtbar Heimweh gehabt. Da bin ich die 15 Kilometer nach Hause gelaufen. Aber natürlich musste ich gleich am nächsten Tag wieder zurück.“ Es sind Sätze wie diese, bei denen über 80 Jahre später auf einmal der kleine Junge aus dem alten Mann zu sprechen scheint.
Nachdem in der Reichspogromnacht im November 1938 die Scheiben ihres Hauses eingeschlagen wurden, gelangen Weinberg und seine Schwester mithilfe einer jüdischen Hilfsorganisation auf ein Gut östlich von Schwerin. Doch auch hier können sie dem Schicksal nicht entrinnen: Nach drei Jahren kommen beide in ein Zwangsarbeiterlager an der Spree, von wo aus sie im Frühjahr 1943 nach Auschwitz deportiert werden.
Zwei Jahre in der Hölle auf Erden
September 2022: Weinbergs Kuchen im ostfriesischen Wohnzimmer ist bis auf den letzten Krümel aufgegessen, die Teetasse restlos geleert. „Bis heute kann er kein Essen übriglassen“, erklärt seine Betreuerin. „Wissen Sie, das hat mit damals zu tun, also seiner Zeit in Auschwitz.“
April 1943: Gedemütigt, entkräftet und verstört kommt der 18-Jährige nach seiner tagelangen Fahrt, eingepfercht in einem Viehwaggon, in Auschwitz direkt an der Rampe in seine erste Selektion: „Auf der linken Seite, da waren die Frauen, Babys und Greise. Wenn der Soldat vor mir nach links gezeigt hätte, dann wär‘ ich mit denen ins Gas gegangen.“ Weinberg wird die Häftlingsnummer 116 927 auf den linken Unterarm tätowiert. Sie ist bis heute noch gut zu erkennen.
In Polen wird er für den Dienst in Monowitz eingeteilt. In dem Vorort von Auschwitz errichtet die I.G. Farben, zu der sich BASF 1925 mit weiteren deutschen Chemieunternehmen zusammenschloss, seit 1941 einen neuen Chemiekomplex. Hier sollen Anlagen rund um die Kunststoffchemie entstehen, vor allem für den kriegswichtigen Synthesekautschuk Buna, aber auch für die Produktion von synthetischem Benzin.
Direkt neben der Baustelle wird das Konzentrationslager Buna-Monowitz (später Auschwitz III) errichtet, in dem die Häftlinge untergebracht sind. Es ist das erste von einem Privatunternehmen erschaffene und finanzierte Lager dieser Größe. Während die I.G. Farben Grundstück und Gebäude stellt, übernimmt die SS die Verwaltung des Lagers und die Bewachung der Insassen.
Weinberg und sein Bruder, der ebenfalls auf der Baustelle eingeteilt wird, sind zwei von 35.000 KZ-Häftlingen, die hier bis Januar 1945 für die härtesten Arbeiten eingesetzt werden. 30.000 von ihnen sterben. Es gibt kaum etwas zu essen, es ist schmutzig und alles ist voller Ungeziefer. Die meisten Häftlinge gehen an Krankheiten, Unterernährung sowie durch die harten Arbeitsbedingungen zugrunde. Etliche von ihnen werden auf der Baustelle misshandelt, ermordet oder bei Selektionen in die Gaskammern nach Birkenau geschickt. Die Brüder haben Glück: Sie überleben wie durch ein Wunder zwei Jahre in dieser Hölle.
Am 27. Januar 1945 befreit die Rote Armee den Lagerkomplex Auschwitz. Weinberg befindet sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr dort. Bei klirrender Kälte, hohem Schnee und kaum noch bei Kräften wurde er wenige Tage zuvor zusammen mit allen noch gehfähigen Häftlingen auf die sogenannten Todesmärsche in Richtung Westen geschickt.
Befreit und doch nicht frei
September 2022: Im warmen Wohnzimmer in Leer steht ein großes gerahmtes Bild im Regal. Es zeigt Weinberg zusammen mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Entstanden ist es nur wenige Tage zuvor anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen, auf die Weinberg als einer der letzten Überlebenden eingeladen war.
April 1945: Weinberg erreicht nach Stationen in Dora-Mittelbau und Neuengamme bei Hamburg das KZ Bergen-Belsen bei Celle und wird von britischen Truppen befreit. „Ich war damals ein mit Haut überzogenes Skelett – mehr tot als lebendig“, sagt Weinberg. „Bergen-Belsen – das war ein Friedhof, mit Tausenden von Leichen, die noch nicht begraben waren.“
Auch seine Geschwister überleben den Holocaust und finden sich nach wochenlanger Suche wieder. Die jungen Erwachsenen erfahren, dass ihre Eltern, die 1944 ebenfalls nach Auschwitz kamen, in den Gaskammern ermordet wurden.
Nach dem Unfalltod seines Bruders wandern Weinberg und seine Schwester 1947 nach New York aus. Die Geschwister bleiben zusammen. Sie versuchen, gemeinsam ihre Erlebnisse zu verarbeiten, und schließen einen Pakt: „Nach dem, was wir erlebt haben, wollten wir niemals jüdische Kinder in die Welt setzen.“
Als die Stadt Leer in den 1980er-Jahren frühere jüdische Bürger einlädt, besuchen die Geschwister ein erstes Mal wieder Ostfriesland. 2012 kehren sie endgültig in ihre deutsche Heimat zurück. Sie ziehen in ein Altersheim, da Albrechts Schwester nach einem Schlaganfall intensive Pflege benötigt. Wenig später stirbt sie und wird neben dem älteren Bruder auf dem jüdischen Friedhof in Leer beigesetzt.
Gedenken als gemeinsame Aufgabe
September 2022: Es ist schon dunkel als Weinberg mithilfe seines Rollators in sein Zimmer geht. Dort begrüßt er Jossel – eine rot getigerte lebensgroße Katze aus Kunststoff, die ihn an seine Zeit in New York erinnert und die eine selbstgehäkelte Kippa auf dem Kopf trägt. An seinem Bett steht ein Radiogerät – bis heute läuft es die ganze Nacht durch, um ihn zu beruhigen. Weinberg blickt auf die wenigen verbliebenen Bilder seiner Familie und den jüdischen Chanukka-Leuchter aus Messing direkt daneben: „Ich habe meine Religion in Auschwitz verloren. Aber jedes Jahr am 27. Januar zünde ich sechs Kerzen an. Eine für je eine Millionen ermordeter Juden.“
Das Schicksal von Albrecht Weinberg steht exemplarisch für das Leiden und das erlebte Grauen der Opfer des Holocaust. Am 27. Januar wird ihrer und weiterer Opfer des nationalsozialistischen Regimes gedacht. Die Erinnerung wachzuhalten, das sehen auch zahlreiche Institutionen und Unternehmen als ihre Aufgabe. BASF hat mit ihrer Initiative „Gedenken. Nachdenken. Umdenken.“ ihre Erinnerungskultur fest im Unternehmen verankert. Schirmherrin Katja Scharpwinkel, BASF-Vorstandsmitglied und Standortleiterin Ludwigshafen, und Schirmherr Sinischa Horvat, BASF-Betriebsratsvorsitzender, setzen sich stellvertretend für die Belegschaft des Unternehmens gegen jede Form von Ausgrenzung und Extremismus ein.