Das Geheimnis des Alterns: Epigenetik im Fokus
Alle Menschen wollen lange leben – und am liebsten ohne Zeichen des Älterwerdens. Die Frage, warum wir altern, stellt sich der Menschheit seit Ewigkeiten. Doch erst die moderne Wissenschaft hat damit begonnen, die biochemischen Mechanismen zu entschlüsseln, die diesen Prozess antreiben. Im Zentrum der Forschung steht die Epigenetik, jenes biologische Fachgebiet, das sich damit befasst, wie die Aktivität von Genen gesteuert wird. Aber wie genau tragen diese Abläufe zum Altern bei? Und noch viel wichtiger: Können wir sie verlangsamen oder gar stoppen?
Das Wichtigste in Kürze:
- Gen-Mutationen wurden lange als Hauptursache des Alterns angesehen, doch es gibt weitere Gründe.
- Epigenetik erforscht, wie der Lebensstil und äußere Einflüsse das Altern beeinflussen.
- Neue Forschungen nutzen mRNA-Technologie und andere Methoden, um den Alterungsprozess zu verlangsamen oder umzukehren.
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Fit bis ins hohe Alter
Die Französin Jeanne Calment verblüffte ihre Umgebung im Alter immer wieder: Mit 85 Jahren entdeckte sie das Fechten für sich, noch als 100-Jährige fuhr sie Fahrrad, ansonsten war sie stets zu Fuß unterwegs, nach eigener Aussage der Garant für ihre andauernde Fitness. Und die währte noch sehr lange: Als Calment 1997 starb, war sie 122 Jahre alt – damit gilt sie offiziell als der älteste Mensch, der je gelebt hat.
Was war ihr Geheimnis? Was führt dazu, dass Menschen bis ins hohe Alter fit bleiben, und wie können wir dieses Wissen nutzen? Diese Fragen treiben Forschende weltweit an. Um sie zu beantworten, gilt es zunächst, den Alterungsprozess zu entschlüsseln. Lange Zeit ging man davon aus, das Altern werde hauptsächlich durch Mutationen im Erbgut verursacht. Diese kleinen Veränderungen im Code der DNA können im Laufe der Zeit die normale Zellfunktion stören und schließlich zum Zelltod führen. Je weniger funktionierende Zellen wir im Körper haben, desto gebrechlicher und kränker werden wir – vergleichbar mit einem Auto, das aufgrund vieler verschleißender Teile irgendwann nicht mehr verlässlich funktioniert.
Dennoch gibt es Tiere und Menschen, die trotz vieler Mutationen gesund und fit sind – und sogar jünger wirken als ihr tatsächliches Alter. Für die Wissenschaft war somit klar: Es muss einen weiteren Mechanismus geben, der das Altern beeinflussen kann.
Und tatsächlich: Der britische Professor Conrad Waddington widmete sich in den 1940er-Jahren einer damals neuen Disziplin, der Epigenetik. Sie erforscht jene Eigenschaften von Genen, die nicht durch die DNA selbst, sondern durch chemische Anlagerungen an ihr in Erscheinung treten. Zum Verständnis: Stellen Sie sich vor, unsere Gene sind wie eine Sammlung von Büchern in einer Bibliothek. An bestimmte Bücher werden kleine Notizzettel – entsprechend den Biomolekülen – geheftet, die bestimmen, ob ein Buch gelesen wird (Gen aktiviert) oder nicht (Gen deaktiviert). Diese Markierungen werden als Teil des „epigenetischen Codes“ bezeichnet. Welcher epigenetische Code sich bei einem Menschen etabliert und ob er sich im Laufe des Lebens verändert, wird neben körpereigenen Signalstoffen auch durch Umwelteinflüsse bestimmt. Von der Luftqualität über Ernährung, Stress, Bewegung bis hin zu Traumata: Diese und weitere Faktoren können biochemische Veränderungen anstoßen und zu entsprechenden Anlagerungen an der DNA führen. Mithilfe der Epigenetik lässt sich zum Beispiel die Frage beantworten, wie es bei Zwillingen mit identischer DNA möglich ist, dass nur einer eine Krankheit wie Diabetes entwickelt, also nur bei einem die entsprechenden Gene aktiviert oder deaktiviert werden.
Das „wahre“ Alter muss nicht mit dem kalendarischen übereinstimmen.“
Was ist Epigenetik?
Der Mensch besitzt rund 25.000 Gene – doch nicht alle sind zu jeder Zeit aktiv. Chemische Prozesse im Körper können sie ein- oder ausschalten. Mögliche Auslöser sind etwa Stress oder die Ernährung.
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Eine Frage der Veranlagung
Das Erbgut, die Desoxyribonukleinsäure (DNA), befindet sich im Zellkern einer jeden Zelle des Körpers. Sie verteilt sich auf 46 Chromosomen. Auseinandergezogen und aneinandergelegt, würden sie einen zwei Meter langen Faden ergeben. Damit er in den winzigen Zellkern passt, ist die DNA um spezielle Proteine, sogenannte Histone, gewickelt.
Sein oder nicht sein?
Die einzelnen Baupläne für den Organismus sind jeweils in einem speziellen Abschnitt der DNA – dem Gen – festgelegt. Doch nicht alle Gene sind aktiv. Welche Gene abgelesen, also nach welchen Bauplänen Eiweiße, Enzyme, Hormone und Co. hergestellt werden, ändert sich im Laufe des Lebens. Durch chemische Prozesse wie die DNA-Methylierung werden Gene deaktiviert: Kleine Moleküle, bestehend aus einem Kohlenstoff- und drei Wasserstoffatomen, heften sich an bestimmte Gene und sorgen dafür, dass sie nicht abgelesen werden.
Locker und lesbar
Andere Markierungen wiederum können Gene aktivieren: Bei der Acetylierung lagern sich kleine Moleküle, sogenannte Acetylgruppen, an die DNA an. Die Gene werden dadurch aus ihrer Histon-Umwicklung befreit. So wird die DNA zugänglich und lesbar.
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Epigenetisch untersucht: So alt sind wir wirklich
Dr. Steve Horvath entdeckte 2013 in seinem Labor an der University of California in Los Angeles/ USA, dass ein großer Teil der Markierungen systematisch ihre Position ändert, wenn Menschen älter werden. Dass gewisse Gene also an- und andere abgeschaltet werden. Auf Grundlage dieser Veränderungen konstruierte er ein erstes Verfahren, um das biologische Lebensalter von Menschen zu bestimmen: Es wurde als „Horvathsche Uhr“ weltberühmt. Mithilfe eines Algorithmus lässt sich die Vitalität eines Organismus, also das „wahre“ Alter bestimmen – und das muss nicht mit dem kalendarischen Alter übereinstimmen. Horvaths mathematisches Modell kann aus bestimmten epigenetischen Methylierungsmarkern (siehe Infografik) eine Altersvorhersage ableiten: Sind wir mit 50 schon zehn Jahre vorgealtert? Oder sind unsere Zellen die eines 40-Jährigen? Die Bluttests erreichen laut Aussage des Forschers eine Genauigkeit von etwa 3,6 Jahren.
Inzwischen gibt es verschiedene epigenetische Uhren. Manche können das Alter bestimmter Organe anzeigen, andere sollen sogar das ungefähre Lebensende vorhersagen. „Ja, das klingt gruselig“, gesteht Horvath, „aber solch eine Information kann ein Anreiz sein, etwas im Leben zu verändern.“ Denn die Methylierungsmuster lassen sich beeinflussen – und bieten damit die Chance, unsere epigenetische Uhr zu verlangsamen oder sogar zurückzudrehen.
So zeigen Studien, dass eine Ernährung, die reich an Obst, Gemüse, Fisch und gesunden Fetten ist, die Abschaltung von Genen bewirken kann, die das Altern beschleunigen. Teilnehmer, die auf die Mittelmeer-Diät setzten, hatten im Schnitt ein 18 Monate jüngeres biologisches Alter als diejenigen, die eine Ernährung mit tierischen Proteinen und Fetten sowie zuckerhaltige Lebensmittel bevorzugten. Ebenfalls positiv wirken sich ausreichend Schlaf und regelmäßige Bewegung aus.
Neue Erkenntnisse der epigenetischen Forschung
Wie sich das Altern darüber hinaus noch bremsen lässt, konnte etwa Professor Vittorio Sebastiano von der Stanford University in den USA darlegen. Um unser Leben potenziell zu verlängern, bediente er sich der mRNA-Technologie. Die „messenger ribonucleic acid“ – kurz mRNA – kommt in jeder unserer Körperzellen vor. Sie ist ein Botenmolekül, das genetische Informationen aus dem Zellkern in die Bereiche der Zelle transportiert, in denen Proteine gebildet werden. Der Forscher injizierte vorzeitig gealterten Mäusen einen mRNA-Bauplan für ein spezifisches Reparaturprotein. Es gelangt in die Zelle und kann dort die epigenetischen Markierungen an Stellen in Ordnung bringen, die im Laufe der Zeit verändert wurden. In Sebastianos Versuchen konnte so die Muskel- und Sehkraft der geschwächten und erblindeten Tiere wiederhergestellt werden. Menschliche Haut-, Muskel- und Blutzellen konnten sogar verjüngt werden – um anderthalb bis dreieinhalb Jahre.
In Studien konnte der Alterungsprozess sogar umgekehrt werden.“
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung von Dr. Greg Fahy und Robert Brooke aus den USA, die mit ihrem Biotechunternehmen Intervene Immune Menschen biologisch verjüngen möchten. Die Forscher behandelten neun Männer im Alter von 51 bis 61 Jahren ein Jahr lang mit einer experimentellen Anti-Aging-Mischung und ließen ihr Blut mithilfe Horvaths epigenetischer Uhr analysieren. Das Ergebnis: Nach der Behandlung waren die Männer biologisch gesehen im Durchschnitt um anderthalb Jahre jünger als zu Beginn. Ihr Alterungsprozess wurde also nicht nur verlangsamt, sondern sogar umgekehrt.
Eine Mischung aus drei Komponenten ermöglichte diesen Wandel: das menschliche Wachstumshormon HGH, die sexualhormonähnliche Substanz DHEA und das Diabetesmittel Metformin. Damit gelang es, das Wachstum des Thymus anzuregen, des Teils des Immunsystems, der normalerweise bei älteren Menschen verkümmert und nicht mehr aktiv ist. Bei jungen Menschen hilft das unter dem Brustbein liegende Immunorgan hingegen, entzündliche Prozesse, die die Zellalterung und Krankheiten vorantreiben, zu unterbinden.
„Die verjüngenden Effekte der Behandlung auf das Immunsystem konnten in der größeren TRIIM-X-Studie reproduziert, das biologische Alter konnte ebenfalls zurückgedreht werden“, erklärt Brooke. Auch wenn die Ergebnisse zunächst in größeren Studien auf ihre Reproduzierbarkeit überprüft werden müssen, ist den Alternsforschern damit ein großer Coup gelungen.
Länger zu leben – und das gesund und fit –, ist also längst kein utopischer Wunsch mehr. Die epigenetische Forschung entwickelt sich rasant und bringt immer neue Methoden hervor, mit denen sich Zellalterung zurückdrehen lässt. Vielleicht wird sie uns eines Tages auch erklären, was bei Menschen wie der 122-jährigen Jeanne Calment der Schlüssel zu ihrem langen Leben war. Die Französin selbst wusste die Frage so zu beantworten: „Der liebe Gott hat mich einfach vergessen.“