Dr. Christina Dean hält eine Rede auf einem Kongress.
Medien

 

Interview

„Wir brauchen eine Revolution“

8. Februar 2024

Die Organisation Redress in Hongkong will die Umweltschäden der Modeindustrie verringern. Sie möchte Designer und Konsumenten aufklären und für Kreislaufwirtschaft begeistern. Gründerin und Vorstandsvorsitzende Dr. Christina Dean sieht noch viel Handlungsbedarf.

 

Die in Großbritannien aufgewachsene Christina Dean hätte nicht gedacht, dass sie eines Tages zur Aktivistin für nachhaltige Mode werden würde. Sie arbeitete zunächst als Zahnärztin und machte anschließend eine Journalistenausbildung. 2007 zog sie nach Hongkong und berichtete über die Folgen der industriellen Umweltverschmutzung. Das führte ihr vor Augen, welche ökologischen Auswirkungen die Modeproduktion hat. Nach wenigen Monaten wechselte Dean erneut die Laufbahn: Sie gründete die nach eigenen Angaben erste Nichtregierungsorganisation Asiens, Redress, die sich mit der Modeindustrie befasst.

Kann Mode jemals wirklich nachhaltig sein?

Ich denke, die Antwort ist nein. Aber das hängt sehr von der Definition von Nachhaltigkeit ab. Viel zu oft wird beim Thema Nachhaltigkeit in der Modeindustrie nur an die Umweltaspekte gedacht. Auch ich habe das lange Zeit getan. Aber es ist viel komplizierter.

Wenn wir Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachten, so wie es die Vereinten Nationen mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung tun, dann umfasst der Begriff die Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales. Übertragen auf die Mode heißt das: In einer idealen Welt würde die Modeindustrie wirklich geschlossene Kreislaufsysteme etablieren, mit erneuerbaren Fasern, recycelten Materialien und fairen Arbeitsbedingungen für alle Beteiligten. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber wir sollten danach streben, diesem Ideal näherzukommen.

Was sind die drängendsten Fragen, mit denen sich die Modebranche in Hinblick auf Nachhaltigkeit derzeit  auseinandersetzen muss?

Das momentane Hauptproblem der Modewelt ist die fehlende Kreislaufwirtschaft. Dazu kommen der übermäßige Konsum, Billigmode und zu wenig Recycling. So üben wir Druck hinsichtlich der ökologischen und gesellschaftlichen Dimension der Nachhaltigkeit aus: Wir ruinieren die Umwelt und drücken die Löhne, um billige Kleidung herzustellen. Man könnte argumentieren, dass die Modebranche wirtschaftlich profitabel ist, weil sie viel Geld verdient, aber sie tut dies auf äußerst ineffiziente Weise. Es entstehen enorme Kosten, um die Umweltauswirkungen des Sektors abzumildern. Und wir schlagen keinen Profit aus dem Potenzial, das ein Wandel von Kleidungsdesign, -Verkauf und -Verwendung mit sich bringen würde und das die Ellen MacArthur Stiftung auf rund 500 Milliarden US-Dollar schätzt: Hin zu erneuerbaren Rohstoffen, mehr Recycling und einer längeren Verwendung unserer Kleidung.

„Die Branche hat ohne Zweifel einen Weckruf erhalten.“

Ist sich die Modeindustrie bewusst, dass sie Dinge besser machen muss? Und versucht die Branche überhaupt, etwas besser zu machen?

 

Die Branche hat ohne Zweifel einen Weckruf erhalten. Sieht man sich die größten Modekonzerne an – also die rund 20 Unternehmen mit dem größten Umsatz – dann sind meiner Meinung nach in den vergangenen Jahren wesentliche Fortschritte erzielt worden. Sie haben sich dabei auf Effizienzsteigerung, CO2-Einsparung, Abfallreduzierung und auf die Arbeitsbedingungen in ihren Lieferketten konzentriert.
Doch das reicht noch nicht. Wir brauchen dringend Maßnahmen außerhalb der direkten Kontrolle der großen Akteure in der Modeindustrie. Dazu gehören Partnerschaften entlang der Lieferketten und eine branchenübergreifende Zusammenarbeit, begonnen bei Faserherstellern und Recyclingfirmen bis hin zu Energieversorgern und Chemieunternehmen. Es gibt beispielsweise bereits Modefirmen, die direkt in Projekte für erneuerbare Energien investieren.

Wie ließe sich der Wandel beschleunigen?

Die Modeindustrie muss in sehr kurzer Zeit viele Veränderungen vornehmen. Das ist die Definition einer Revolution – und wir brauchen eine Revolution.
In den vergangenen 10 bis 15 Jahren hat die Forschung weltweit zahlreiche neue Entwicklungen hervorgebracht: neue Materialien, neue Stoffe und neue Verfahren, die eine echte Kreislaufwirtschaft in diesem Sektor ermöglichen könnten. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, all diese hervorragenden Ideen in großem Maßstab umzusetzen. Aber das kostet Geld. Die Boston Consulting Group und Fashion for Good haben vor ein paar Jahren einen sehr guten Bericht über die technologischen Anforderungen an eine zirkuläre Mode-Lieferkette erstellt. Sie schätzen, dass die Branche bis 2030 jährlich 20 bis 30 Milliarden US-Dollar an Finanzmitteln benötigt, um nachhaltige Lösungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln und marktfähig zu machen. Um diese Lücke zu schließen, müssen philanthropische Organisationen, Risikokapitalgeber, private Investoren, Finanzinstitute und die Modeindustrie zusammenarbeiten.
Nachhaltigkeit ist aber nicht nur ein Kostenfaktor, sondern kann auch die Rendite steigern: Inzwischen gibt es sehr viele Belege dafür, dass nachhaltige Geschäftskonzepte und gut durchdachte Umwelt-, Sozial- und Governance-Strategien (Environmental, Social and Governance, kurz ESG) zu einer langfristig höheren Profitabilität führen. Eine Studie unter großen Unternehmen hat gezeigt, dass Umsatz und Gewinn von Firmen mit hohen ESG-Standards mehr als doppelt so schnell gestiegen sind wie die von Unternehmen, die das Thema noch nicht priorisiert haben. Ich denke, dass die Verantwortlichen in den Führungsetagen die Karotte direkt vor der Nase haben: nämlich die Marktchancen zu nutzen, die Nachhaltigkeit bietet.

Können wir es der Industrie überlassen, diese Revolution umzusetzen, oder sind auch Regierungen und Regulierungsbehörden gefragt?

Ich bin optimistisch, was das Bestreben vieler Führungskräfte – nicht aller, aber der meisten – angeht, für mehr Nachhaltigkeit in ihren Unternehmen zu sorgen. Trotzdem lassen sich faire Wettbewerbsbedingungen nur durch wirksame Regulierungen schaffen. Das ist allerdings keine einfache Sache. Es dauert lange, bis Regierungen neue Gesetze auf den Weg bringen. Außerdem müssen sie mit der Industrie zusammenarbeiten, damit die Gesetze umgesetzt werden können, ohne den Sektor, der reformiert werden soll, zu zerstören. Gelingt dies nicht, werden die vorgeschlagenen Vorschriften am Ende wieder verworfen, und es vergehen weitere 20 Jahren ohne Schiedsrichter auf dem Spielfeld.
Regulierungen können Veränderungen in der Branche aber durchaus beschleunigen. Ein Beispiel dafür ist Frankreich. Dort hindert ein Gesetz die großen Modeunternehmen daran, unverkaufte Ware zu verbrennen, die wiederverwendet oder recycelt werden könnte. Das hat die Unternehmen zum Handeln veranlasst und sie gezwungen, den Umgang mit ihren Beständen zu überdenken.

„Unsere Entscheidungen sagen etwas darüber aus, in was für einer Welt wir leben möchten.“

Wie hilft Ihre Organisation Redress Unternehmen und Verbrauchern dabei, Mode nachhaltiger zu machen?

Bei Redress konzentrieren wir uns auf Anfang und Ende des Lebenszyklus von Mode. Wir arbeiten daran, die Verbraucher über die Auswirkungen ihrer Mode-Entscheidungen aufzuklären. Wir wollen sie dazu ermutigen, weniger zu kaufen, besser zu kaufen und achtsamer zu sein. Wir betreiben eine Kleidersammlung und einen Secondhand-Laden in Hongkong. Wir veranstalten Events, Vorträge und Ausstellungen, veröffentlichen Online-Informationen und arbeiten mit weiterführenden Schulen zusammen.
Darüber hinaus arbeiten wir auch mit Designern zusammen. Wie bei den meisten Produkten entscheidet die Designphase über etwa 80 Prozent der Umweltauswirkungen eines Kleidungsstücks. Das ist der Moment, um den Kreislaufgedanken ins Spiel zu bringen. Das Herzstück unserer Zusammenarbeit mit Designern ist der Redress Design Award, der weltweit größte Wettbewerb für nachhaltiges Modedesign. Die Auszeichnung hat weltweit 150 Universitätspartner und wurde 2023 bereits zum 13. Mal verliehen. Die Teilnehmenden lernen in Vorlesungen und Online-Kursen etwas über Nachhaltigkeit, und die Gewinnerin oder der Gewinner erhält die Möglichkeit, für eine führende internationale Modemarke zu arbeiten.

Wie steht es um die Rolle der Verbraucher als Motor des Wandels?

Die Stimme der Verbraucher hat großen Einfluss – etwa was die Entscheidungen bekannter Marken angeht. Es kommt wirklich darauf an, was wir kaufen. Und auch darauf, wie wir mit unserer Kleidung umgehen. Wenn wir sie besser waschen und pflegen, länger tragen und am Ende weitergeben – all das hat einen großen Einfluss auf die Gesamtbilanz. Kleidung ist eine wunderbare Möglichkeit, um sich auszudrücken. Aber sie bedeutet auch eine große Verantwortung: Unsere Entscheidungen sagen etwas darüber aus, in was für einer Welt wir leben möchten.

Portrait of Christina Dean
About Dr. Christina Dean
Dean is a sustainable fashion advocate who has championed better practices in fashion for over 15 years: For example with the renowned Redress Design Award honoring young talents. She was listed as one of British Vogue’s Top 30 Inspirational Women.
Portrait Christina Dean

Über Dr. Christina Dean

Dean ist eine Fürsprecherin nachhaltiger Mode und setzt sich seit über 15 Jahren für bessere Praktiken in der Modebranche ein – unter anderem mit dem renommierten Redress Design Award, der junge Modeschaffende auszeichnet. Sie wurde von der britischen Vogue in die Liste der 30 inspirierendsten Frauen aufgenommen.

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