25. Februar 2021
Magazin

Der digitale Schub

Die Coronavirus-Pandemie hat die Arbeitswelt verändert. Beherzt nutzen Unternehmen und Beschäftigte die transformative Kraft des Digitalen.

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Keine reine Zukunftsmusik: Avatare der BASF-Mitarbeiter tauschen sich in digitalen Sphären aus. Dafür hat das Unternehmen eine Plattform pilotiert, auf der Mitarbeiter während des Corona-Lockdowns virtuell zusammenkommen konnten.

Gleich früh am Morgen klappt Coralie Adam in einem Vorort von Los Angeles ihr Notebook auf – und steuert ihre Raumsonde noch ein paar Meter näher an Bennu, einen etwas schroff wirkenden Asteroiden, über 321 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Ganz professionell. „Ein echtes Raumfahrzeug von zu Hause aus zu steuern – das ist schon etwas anders, als an einer Spielkonsole zu sitzen“, räumt Adam, die Flugnavigatorin des US-amerikanischen Unternehmens für Flug- und Raumfahrtechnik KinetX, ein. Zumal ihr Team nicht wie üblich gemeinsam im Kontrollzentrum, sondern wegen Covid-19 über die ganze USA verstreut arbeitet. Doch dank digitaler Technologie und viel Organisation gelang es Adams Team schließlich, Gesteinsproben zu nehmen – und ihre Mission für das NASA-Projekt OSIRIS-REx doch noch zu vollenden.

 

Es ist eine Erfahrung, die Adam mit Arbeitnehmern, Studierenden und Schülern weltweit teilt: Ortsungebundenes Arbeiten ist keine Raketenwissenschaft. Während Büros, Werkhallen und Bildungseinrichtungen zum ersten Höhepunkt der globalen Pandemie verwaisten, vernetzten sich Kollegen und Kommilitonen von Wohnzimmer oder Küche aus in Windeseile virtuell über Videokonferenzen, Chats und Messenger.

Digitale Arbeitsweisen aktiv zu nutzen, gibt auch den Mut, Dinge anders anzugehen.“
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Martin Stork

Leiter Workforce Enablement bei Global Digital Services der BASF, Ludwigshafen

Bei BASF etwa wechselte weltweit ein gutes Drittel der Belegschaft ins Homeoffice. Die Ad-hoc-Situation wurde besser gemeistert, als man für möglich gehalten hätte – auch dank interner Unterstützungskampagnen zum digitalen Arbeiten. „Digitale Arbeitsweisen aktiv zu nutzen und zu erleben – das macht etwas mit einem. Der Mut, neue Dinge zu tun, Sachen anders anzugehen, ist deutlich gestiegen“, beobachtet Martin Stork, der die Workforce Enablement bei Global Digital Services der BASF in Ludwigshafen leitet.

Positive Erfahrungen, die viele Unternehmen bestätigen: In einer internen Studie von McKinsey in den USA gaben 80 Prozent der befragten Beschäftigten während der Corona-Pandemie an, sie arbeiteten gerne im Homeoffice. Mehr als zwei Drittel sagten, sie seien zu Hause produktiver oder mindestens so produktiv wie im Büro. Tech-Giganten wie Google und Facebook setzen daher auf absehbare Zeit ganz auf Homeoffice. Facebook-CEO Mark Zuckerberg rechnet damit, dass die Hälfte seiner Mitarbeiter nach der Corona-Zeit nicht mehr ins Büro zurückkehren wird. Und bei BASF? „Wir werden nicht in eine rein virtuelle Zukunft aufbrechen, sondern in eine flexible. Der persönliche Kontakt bleibt für uns ein wichtiger Treiber unserer Innovationskraft“, sagt Stork.

 

Etliche der Unternehmen, die das Digitale in ihrer DNA tragen und Praktiken für ein zukunftsfähiges Zusammenspiel von Mensch und Maschine über Jahre erprobt haben, stellten diese zum Höhepunkt der Pandemie schnell und unbürokratisch dem Gemeinwesen zur Verfügung. Da ist etwa TCS iON, die global agierende IT-Tochter des indischen Tata-Konzerns, den viele als Stahl- und Auto-Riesen kennen. Mit TCS iON hat der Industrie-Tanker längst ein wendiges Beiboot bekommen. Seit Jahren engagiert sich TCS iON beim digitalen Lernen an Schule und Universität.

Lernen umkrempeln

Im vergangenen Jahr ermöglichte der kostenlose Digital Glass Room Millionen indischen Schülern, trotz Coronavirus-Lockdown weiter am Unterricht teilzunehmen. „Die digitale Lernplattform“, betont TCS-iOn-Chef Venguswamy Ramaswamy, „ist mehr als eine Notlösung: Das Werkzeug hat das Potenzial, das Lehren und Lernen grundlegend umzukrempeln.“ Statt Frontalunterricht mit digitalen Mitteln fortzusetzen, könnten Lehrer wie Schüler in den digitalen Zimmern – je nach Thema und Format – virtuelle Möglichkeitsräume eröffnen.

 

Dort können sie diskutieren, bloggen, ein Quiz veranstalten und vieles mehr. Die Gruppengröße ist frei wählbar – und auch der Zeitpunkt, wann sie die Aufgaben machen möchten. Gleichzeitig sollen Lehrende unterstützt werden, für jeden Schüler eine passgenaue Pädagogik zu entwickeln. Die digitalen Werkzeuge will der TCS-iON-Chef dem gesamten Konzern zur Verfügung stellen, um auch den rund 453.000 TCS-Mitarbeitern weltweit die passende Talentförderung zu bieten.

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Quelle: McKinsey

Über neue digitale Instrumente und Arbeitsweisen zerbrechen sich Unternehmensstrategen weltweit den Kopf: Denn auch wenn Homeoffice und mobiles Arbeiten bei ihnen recht reibungslos angelaufen sein mögen – so werden doch nach und nach auch die dunklen Seiten der immer gleichen Bildschirm-Kommunikation sichtbar. Schon macht das geflügelte Wort der „Zoom-Fatigue“ die Runde: eine rätselhafte Erschöpfung, die regelmäßige Teilnehmer von Video-Konferenzen erfasst. „Durch den dauernden direkten Augenkontakt und das Zurückbeobachtetwerden über Webcams fühlten sich Teilnehmer unter Druck wie auf einer Bühne“, sagt die kanadische Psychologin Janine Hubbard, Lehrbeauftragte der Memorial University of Newfoundland.

 

Die Online-Besprechung als Instrument unerbittlicher Dauerbeobachtung, bei dem die menschliche Natur nahezu intuitiv Auswege sucht? Schon haben sich Anwendungen etabliert, mit denen Mitarbeiter die strenge Atmosphäre auflockern können, indem sie echte Lamas oder Ziegen ins Zoom-Meeting einladen. Die Tiere werden dann ebenfalls per Video der Konferenz zugeschaltet.

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Spontaner, informeller Austausch beim Kaffee ist in Coronavirus-­Zeiten schwieriger geworden.

Wert informeller Kontakte

Jenseits eher kurios anmutender Ablenkungsmanöver sehen Experten längerfristig auch problematische Folgen der voll durchdigitalisierten Arbeitskommunikation. „Viele Firmen unterschätzen noch immer den Wert informeller Kontakte“, warnt der Neurobiologe Professor Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig. Die zufällige Begegnung, etwa von Kollegen am Kaffeeautomaten, „geht einher mit kreativen Prozessen, mit der spontanen Entstehung und Entwicklung neuer Ideen.“ Kontroverse Diskussionen, etwa zur Strategie eines Unternehmens, seien „online ungemein schwierig zu orchestrieren“. Die Lösung für dieses Problem, glaubt Korte, könnte in hybriden Formaten liegen, bei denen sich Online-Arbeit und vollständig analoge Treffen ergänzen. Denn ohne persönliche Zusammenkünfte drohten die Identifikation mit dem Unternehmen – und letztlich dessen Identität – verlorenzugehen. Er betont: „Es geht hier um einen Zusammenhalt, der immer wieder neu erzeugt werden muss.“

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Konferenzen mit den Kollegen – künftig könnten sie öfter digital im Homeoffice stattfinden.

Ließe sich die zwischenmenschliche Nähe, die unentbehrlich für das Gemeinschaftsgefühl von Teams ist, auch virtuell erzeugen? Professor Blair MacIntyre beantwortet diese Frage fast uneingeschränkt mit Ja. Der Leiter des Augmented Environments Lab am Georgia Institute of Technology in den USA musste seine renommierte IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers)-Konferenz für Virtuelle Realität (VR) im März 2020 kurzerhand ins Internet verlegen. Besucher konnten sich über Avatare – also digitale Stellvertreter – in virtuellen Räumen bewegen. „Mit den immer besseren VR-Brillen und Sensoren fühlt sich das mittlerweile wie ein lebensechtes Eintauchen an“, behauptet MacIntyre. Aber es konnte immer nur ein kleiner Teil der Konferenzteilnehmer gleichzeitig über ihre Avatare interagieren. „Noch ist es technisch und von der Rechenleistung her nicht möglich, mehrere Tausend Teilnehmer in einem virtuellen Raum zusammenzubringen“, räumt MacIntyre ein. Der Experte für virtuelle Realität sieht technische wie coronabedingte Beschränkungen indes auch als Chance, Veranstaltungsformate neu zu denken: etwa als von Zeitzone zu Zeitzone über den Globus wandernde Online-Konferenz. Als positive Nebenwirkung der Corona-Krise könnten Menschen aus ärmeren Weltregionen teilnehmen, die sich bisher die Reise zu seinen Virtual-Reality-Konferenzen nicht leisten konnten.

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Ein Mitarbeiter von BASF Digital Solutions lotet mit der Datenbrille ­HoloLens neue, virtuelle Wege der globalen Zusammenarbeit im Büroalltag aus.

Avatare fördern Interaktivität

Die Zukunftstechnologie VR gehört auch bei BASF zum digitalen Werkzeugkasten. „Wir haben eine Plattform pilotiert, auf der Mitarbeiter während des Corona-Lockdowns zumindest virtuell zusammenkommen und Workshops dennoch erfolgreich durchführen konnten“, berichtet Stork. Avatare der Mitarbeiter kommunizierten in der digitalen Sphäre. „Damit konnten sie auch länger aktiv sein als bei einem klassischen Videokonferenzformat und fühlten sich auch deutlich eingebundener.“ Die Nutzung neuer Tools beschränkt sich bei BASF nicht auf das Büro: Auch in der Produktion setzen Arbeiter mittlerweile die Datenbrille HoloLens auf. Sie macht Informationen und Datenströme von Maschinen sichtbar, die dem Auge sonst verborgen blieben. „Mithilfe von Virtual Reality“, glaubt MacIntyre, „könnten sich Großunternehmen in gewissem Maße von der ‚echten Welt‘ lösen. Es ist möglich, sich bis auf die molekulare Ebene chemischer Prozesse hineinzuzoomen oder eine Fabrik aus der Vogelperspektive heraus zu betrachten.“

Ob für die Raumfahrt-Ingenieurin oder global agierende Unternehmen: Das Coronavirus hat der Digitalisierung noch mal neue Schubkraft gegeben.

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